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Heike Wieschiolek

Ost- und Westdeutsche in einem mecklenburgischen Betrieb: Beratungspotentiale einer Ethnographie

Was kann die ethnologische Perspektive zu den Erkenntnissen über einen Betrieb beitragen, was nicht längst von Wirtschaftswissenschaftlern, Psychologen oder Soziologen untersucht worden ist? Und welchen Wert könnten diese Erkenntnisse für einen Betrieb haben? Sollte sich die Ethnologie überhaupt mit Arbeit und Organisationen in Industriegesellschaften beschäftigen und sich nicht lieber auf ihr "angestammten" Gegenstandsbereich beschränken, die "fremden", d.h. die außereuropäischen, schriftlosen oder traditionellen Kulturen? Die letzte Frage ist am leichtesten zu beantworten, sie ist innerhalb der Ethnologie schon lange entschieden worden: da viele Ethnologinnen und Ethnologen heute aus Afrika, Asien, Ozeanien oder Südamerika kommen, ist die Grenzziehung zwischen der "eigenen" Kultur, die man zu kennen glaubt, und der "fremden" Kultur, die durch die Ethnologen erforscht werden muß, nicht mehr aufrechtzuerhalten. Ob sie jemals sinnvoll war, darf aus heutiger Sicht ebenfalls bezweifelt werden.

Wenn man sich aber mit der eigenen, hochindustrialisierten Gesellschaft beschäftigt, dann ist es unvermeidlich, sich auch mit Organisationen und Betrieben zu beschäftigen, weil diese ihre jeweilige Gesellschaft und deren Kultur in starkem Maße beeinflussen (Gamst/Helmers 1991:37), in das Leben jedes Einzelnen eingreifen und die Normen und Wertvorstellungen aller Beteiligten prägen (Graaf/Rottenburg 1989:24/5; Götz/Moosmüller 1992:8; Firth 1978:101). Denn am Arbeitsplatz lernt man wirtschaftliche und soziale Zwänge kennen und entwickelt Strategien für deren Bewältigung, die auch auf außerbetriebliche Zusammenhänge übertragen werden (Beynon/Blackburn 1972:156; Blauner 1964:183; Firth 1978:101; Götz/Moosmüller 1992:8; Sahlins 1981:207-208; Stollberg 1988:12).

Daß sich Ethnologen in Betrieben aufhalten, ist daher auch durchaus nichts Neues. Die ersten Versuche, das Konzept von Arbeit um eine psychologische bzw. kulturelle Dimension zu erweitern, war das sogenannte "Hawthorne-Projekt", das in den 30er und 40er Jahren in Chicago durchgeführt wurde, um Zusammenhänge zwischen Arbeitsproduktivität und Faktoren der Arbeitsplatzgestaltung zu finden. Diese Faktoren wurden zunächst in Lichtstärke und anderen äußeren Gegebenheiten gesucht, dann aber in der Qualität der informellen Beziehungen zwischen den Arbeitern gefunden. Diese Ergebnisse wurden von der Human-Relation-Bewegung aufgegriffen, die davon ausging, daß bessere Zusammenarbeit eine positivere Einstellung zur Arbeit, dadurch bessere Leistungen und letztendlich eine höhere Effektivität zur Folge habe. Die Bewegung beschäftigte sich mit interpersonellen Beziehungen, Normen, Ritualen und Symbolen, d.h. mit der inoffiziellen Seite von Betrieben. Unter ihren Vertretern befanden sich schon früh auch Ethnologen, etwa W. Lloyd Warner, der für das Projekt die "anthropologische Methode" lieferte.

In der Folge gab es in den Wirtschaftswissenschaften einen bis heute andauernden ständigen Wechsel zwischen Konzepten, die Arbeit und Leistung als ausschließlich von zweckrationalen Erwägungen geleitet ansahen und Konzepten, die psychologische oder kulturelle Faktoren als bedeutsam ansahen. Letztere bedingten es, daß die informelle Seite von Organisationen und Wirtschaftsbetrieben untersucht wurde. Diese wurde mal "Human relations", mal "Betriebsklima", "Soft Faktors" oder "Unternehmenskultur" genannt. Dabei wurden auch immer wieder Ethnologen in die Untersuchung dieser Phänomene einbezogen, das ging bis hin zu dem Vorschlag der Industrieethnologin Perey, daß Ethnologen im großen Umfang als Berater in Industrieunternehmen tätig werden sollten, und zwar vor allem in der Managementberatung und der Personalberatung (Perey 1988:123/4).

Diese Idee wird unterstützt durch Bemerkungen wie der des Chefs der Sozialforschung bei den General Motors Research Laboratories, daß die Ethnologie zukünftig einen großen Einfluß haben werde. Hier tut sich aber die Frage auf, ob die Art von Daten und Erkenntnissen, wie sie von Ethnologen erhoben werden, tatsächlich als Basis für eine Unternehmensberatung geeignet ist.

Das die Akteure eines Forschungsfeldes dem Ethnologen ein Beratungspotential zusprechen und Rat oder Hilfe von ihm erhoffen, habe ich während meiner betrieblichen Feldforschung selbst feststellen können. Ich führte diese Feldforschung 1994 bis 95 in einem mecklenburgischen Zuliefererbetrieb der Schiffsbauindustrie durch. Es war die Firmenneugründung eines westdeutschen Konzerns, der 1992 eine Zweigniederlassung in Ostdeutschland aufgebaut hatte. Dazu hatte der Konzern von einer ostdeutschen Werft sowohl ein Gebäude gemietet, als auch etliche der dort tätigen Mitarbeiter in die neue Firma übernommen. Die Belegschaft umfaßte zur Zeit der Feldforschung ca. 100 Mitarbeiter. Die Hälfte der Mitarbeiter übte handwerklich-technische Tätigkeiten in der Produktion, Montage oder im Service aus, die andere Hälfte arbeitete in Buchhaltung, Einkauf, Vertrieb, Konstruktion bzw. der Geschäftsleitung. In letzterer waren sowohl Ostdeutsche, als auch zwei Westdeutsche tätig, wobei die beiden Westdeutschen die oberste Entscheidungskompetenz innehatten.

Bei der Konzeption meiner Feldforschung war es mir wichtig gewesen, daß ich in einem ostdeutschen Betrieb auch tatsächlich mitarbeiten und am Betriebsleben teilnehmen könne. Damit und mit einer Aufenthaltsdauer von 7 Monaten wollte ich nicht nur dem methodischen Anspruch der Ethnologie gerecht werden, der fordert, daß Ethnologen für längere Zeit am Leben der von ihnen untersuchten Kulturen teilnehmen. Ich erhoffte mir von diesem Vorgehen auch erkenntnistheoretische Vorteile: Indem ich Lebensbedingungen und organisatorische Zwänge zumindest eine Zeit lang mit meinen Kollegen teilte, hoffte ich realistischere Erfahrungen zu machen, als wenn ich mich auf Beobachtungen, ergänzt durch Interviews, beschränken würde. Zudem nahm ich an, daß ich auf diese Weise einen besseren Zugang zu den Kollegen finden und ihr Vertrauen gewinnen könne.

Um dieses Ziel zu verwirklichen, habe ich den Status einer Praktikantin gewählt. In den kaufmännischen Abteilungen der Firma wurde ich für einfache Hilfsarbeiten eingesetzt, zum Kopieren, Schreiben, Abheften, für den Telefondienst und in der Warenannahme bzw. im Lager als Packerin.

Durch meine Mitarbeit und den häufigen Wechsel zwischen verschiedenen Abteilungen hatte ich Kontakt zu sehr vielen Mitarbeitern. Der war zudem viel enger, als ihn eine nur beobachtende und fragende Ethnologin gehabt hätte. So konnte ich nicht nur formelle Interviews machen, sondern auch viele informelle Gespräche führen und beobachten ohne zu stören. Oft wurde meine zweite Rolle als Feldforscherin sogar ganz vergessen. Das ich meine Doppelfunktion als Praktikantin und Ethnographin allen offenlegte, war für mich selbstverständlich, denn jedes andere Verhalten hätte gegen den Verhaltenskodex der Ethnologen verstoßen. Diese Regeln schreiben außerdem vor, daß der Schutz der Informanten oberste Priorität vor jedem Erkenntnisinteresse oder anderen Zielen hat.

Aber schon beim ersten Gespräch mit den beiden westdeutschen Geschäftsführern, als es noch darum ging, ob ich überhaupt in dieser Firma arbeiten dürfe, hatte einer meiner Gesprächspartner die spontane Idee, ich würde ja viel über die Stimmung im Betrieb erfahren, wenn ich als Praktikantin in alle Abteilungen und in engen Kontakt mit den Mitarbeitern käme und er signalisierte Interesse an diesem Wissen. Ich erklärte ihm, daß dies dem Ethikkatalog der Ethnologie widersprechen würde, der dem Schutz der Informanten gilt, und daß ich daher Informationen nur mit der Zustimmung aller Beteiligten weitergeben könne. Ich erhielt trotzdem die Erlaubnis, meine Forschung in diesem Betrieb durchzuführen.

Einige Monate später hatte ich schon viele Abteilungen des Betriebes durchlaufen, wobei ich besonders viel Zeit im Lager und der Warenannahme verbracht hatte. Meine ethnographische teilnehmende Beobachtung hatte sich schon fast in eine normale Arbeitnehmertätigkeit verwandelt und ich hatte sehr intensive Einblicke in die organisatorischen und personellen Probleme dieser Abteilungen bekommen. Da wurde ich eines Tages überraschend zur Geschäftsleitung gebeten. Dies Ereignis wurde von meinen Kollegen mit Mißtrauen wahrgenommen und auch ich fühlte mich unwohl, da ich bislang nur wenig Kontakt mit der Betriebsleitung gehabt hatte und mir keinen Anlaß für dieses Treffen vorstellen konnte.

Die Geschäftsführer begrüßten mich sehr freundlich und baten mich dann um meine Hilfe: sie hätten den Eindruck, daß einer meiner Kollegen im Lager mit seiner Aufgabe überfordert sei und wollten von mir, die ihn ja täglich bei der Arbeit erlebe, meine Einschätzung der Situation wissen. Sie seien im Zweifel, ob sie nicht eine weitere Person für diesen Bereich einstellen sollten.

Ich fühlte mich alarmiert, denn es hatte schon häufig Streitigkeiten zwischen Teilen der Betriebsleitung und dem Mitarbeiter gegeben, der jetzt als "überfordert" bezeichnet wurde. Darüber hinaus war sein Vorgänger entlassen worden, ein Ereignis, von dem mir häufiger hinter vorgehaltener Hand und in vagen Andeutungen erzählt worden war. Ich mußte also befürchten, daß es der Geschäftsleitung nicht um die Einstellung einer weiteren Kraft, sondern um einen Austausch des Mitarbeiters ging. Hinzu kam, daß ich teilweise selbst den Eindruck hatte, daß der Mitarbeiter nicht unbedingt die Idealbesetzung für seine Aufgabe war. Wenn ich jedoch diesen Eindruck wiedergegeben hätte, hätte dies einen ganz erheblichen Nachteil für ihn, meinen Informanten, bedeuten können, bis hin zu seiner Entlassung. Sogar wenn ich mich – wie beim Einstellungsgespräch – ganz geweigert hätte, Auskunft zu geben, hätte man es als negatives Statement auslegen und ihm zum Nachteil wenden können. Und natürlich wollte ich gern zwischen den Parteien vermitteln, da mir Teile des Konfliktes als kulturelle Mißverständnisse erschienen.

Ich versuchte also meinen Gesprächspartnern meine Sicht der Situation zu vermitteln: für den fraglichen Mitarbeiter – und nicht nur für ihn – waren die neuen organisatorischen Prinzipien des jetzt nach westlichem Muster strukturierten Betriebes nicht nur völlig fremd, vor seinem Erfahrungshintergrund erschienen sie ihm oft auch sinnlos oder sogar falsch. Er war es gewohnt, daß in einem Lager alle benötigten Materialien tatsächlich lagerten. Was dort nicht zu finden war, gab es eben nicht und war nur unter größten Schwierigkeiten und unter Umgehung des "Plans" zu beschaffen. In der neuen Firma arbeitete man jedoch nach dem Prinzip "just in time", d.h. Material wurde erst zu dem Zeitpunkt bestellt, wenn es tatsächlich benötigt wurde. Dies Prinzip sollte nicht nur Platz sparen, sondern vor allem verhindern, daß finanzielle Mittel für Produkte gebunden wurden, die noch gar nicht benötigt wurden. Die Theorie sagte, daß diese finanziellen Mittel dann für andere Dinge eingesetzt werden könnten.

In der Praxis war es allerdings so, daß Zulieferer häufig falsches Material oder falsche Mengen oder zu spät anlieferten, so daß Materialien fehlten. Das wiederum löste große Probleme aus, die Produktion mußte umorganisiert werden, bereits zugeteiltes Material wieder umverteilt werden oder einzelne Produkte mit hohem Kostenaufwand extra angefordert werden. Das bedeutete für den betroffenen Mitarbeiter, daß er sehr komplexe und vielfältige Vorgänge zu bewältigen und vor allem ständig Entscheidungen zu fällen hatte. Alles dies belastete ihn sehr. Hinzu kam, daß ihm der Sinn dieser Belastungen nicht deutlich wurde – und ich muß gestehen, auch ich hatte große Zweifel, ob sich das System "just in time" in diesem Falle rechnete.

Diese Überlegungen versuchte ich also den Geschäftsführern zu veranschaulichen. Ich wollte ihnen erklären, daß dieser Mitarbeiter meiner Meinung nach nicht grundsätzlich unfähig war, sondern daß er wie die meisten Ostdeutschen zur Zeit eine enorme Anpassungsleistung erbringen mußte, die für einen Mitarbeiter in seiner Position absolut unüblich war und die daher auch eine längere Dauer benötigte. Ich bezweifle, daß ich sie überzeugt habe, der Mitarbeiter blieb jedoch und ist auch heute noch in der selben Position.

Der Wunsch nach Einmischung in die Betriebsinterna wurde aber auch sozusagen von der "anderen Seite" an mich herangetragen. Gegen Ende meiner Feldforschung erfuhr ich von einem Gerücht über mich, das wohl schon seit langer Zeit im Betrieb kursierte. Offenbar war die Idee entstanden, ich sei keine Ethnologin, sondern eine zukünftige Geschäftsführerin, die unter dem Vorwand, eine Ethnographie zu erstellen, sich die Verhältnisse im Betrieb aus Mitarbeiterperspektive ansehen wollte, um dann dieses Wissen in ihre Leitungstätigkeit einzubringen. Im Nachhinein fiel mir auf, daß einige Kollegen mir wiederholt sehr eindringlich von Problemen und Mißständen berichtet hatten, an denen ich wirklich nichts ändern konnte, und ich war auch schon darum gebeten worden "ein gutes Wort einzulegen", obwohl ich immer betont hatte, daß ich keinerlei Kompetenz habe.

Dieser Wunsch, daß sich einer der Leitenden um die Sorgen und Probleme der einfachen Mitarbeiter kümmern, und auch deren Wissen und Anregungen ernst nehmen möge, ist sicherlich für jeden verständlich. In Ostdeutschland Mitte der 90er Jahre war dieser Wunsch aber extrem stark, weil eigentlich alle Ostdeutschen das Gefühl hatten, von der übermächtigen Kultur der Westdeutschen überwältigt zu werden, ohne ihre Einwände und Zweifel an der Art der wirtschaftlichen Transformation ihres Landen irgendwo zu Gehör bringen zu können.

Aber auch hier mußte ich den an mich hereingetragenen Wunsch enttäuschen. Ich hatte zwar oft auch selbst das Bedürfnis, mein während der Feldforschung erworbenes Wissen über die ostdeutsche Kultur und speziell die kulturellen Modelle ostdeutscher Mitarbeiter über Arbeit und Wirtschaft einigen westdeutschen Entscheidern mitzuteilen. Ich bin aber absolut sicher, daß dies keinerlei Einfluß auf deren Verhalten gehabt hätte. Denn die negative Bewertung der DDR, ihres Sozialsystems und der Leistungsfähigkeit der Ostdeutschen war nicht einfach die Folge der Ignoranz der Westdeutschen, sondern eine wichtige Waffe in der Auseinandersetzung um Macht und die Verteilung von Ressourcen aller Art.

Und daher wurden ostdeutsche Leistungen und Potentiale, die vielleicht sogar denen westdeutscher Arbeiter und Angestellter überlegen waren, ignoriert. Arbeitskollektive und informelle Netzwerke, die den gerade in der modernen Marktwirtschaft benötigten Kommunikationsfluß hätten fördern können, wurden nur als mißliebiges Überbleibsel der alten Ordnung ("Seilschaften") gesehen, statt daß ihre Vorteile genutzt würden. Berufstätigen Frauen wurde vorgeworfen, sie besetzten "Männerberufe" und die in der DDR üblichen sozialen Leistungen wurden pauschal als "zu teuer" deklariert. Diese negativen Bewertungen schufen die Legitimation dafür, alle diese ostdeutschen Institutionen und Erscheinungen durch die westliche Variante ökonomischer Rationalität zu ersetzen. Unter anderen Prämissen hätte man die Kollektive als informelle Teams, die sozialen Leistungen als Investition in das allgemeine Leistungsniveau und weibliche Berufstätigkeit als Beitrag zum Bruttosozialprodukt definieren und erhalten können. So aber wurden fast alle abweichenden Institutionen und Strukturen in Ostdeutschland für wertlos erklärt und durch westdeutsche ersetzt.

In beiden Fällen, in denen ich als Ethnographin gebeten wurde, als Beraterin tätig zu werden, wären also meine Interventionen nicht angemessen gewesen – entweder, weil ich die ethischen Regeln meiner Disziplin hätte verletzen müssen, oder weil das Wissen, das ich hätte beitragen können, für die – im wahrsten Sinne des Wortes – entscheidenden Stellen unwichtig oder sogar lästig gewesen wäre. Die Sicht der ostdeutschen Mitarbeiter war für die westdeutschen Geschäftsführer nicht relevant, weil sie selbst unter dem Zwang standen, den Betrieb an westdeutsche Standards und Normen anzupassen. Dieser Zwang bewirkte, daß sie nicht bereit waren, sich auf eine völlig andere Sicht der Wirtschaft, der Betriebsführung und der Bewertung von Arbeit einzulassen, die sich ihrer Meinung nach mit dem Ende der DDR sowieso als falsch und ineffizient erwiesen hatte. Daß es Aspekte gab, die sinnvoll oder sogar dem westlichen System überlegen und daher erhaltenswert waren, hatte in ihren Vorstellungen keinen Raum. Eine Einstellung, möchte ich anmerken, mit der sie gewiß nicht allein standen und die ich ihnen persönlich keinesfalls zum Vorwurf machen möchte.

 

FAZIT

Meine Antwort auf die Frage dieser Tagung, ob ethnographisches Wissen als Input für die Organisationsberatung taugt, muß aufgrund meiner geschilderten konkreten Erfahrungen negativ ausfallen. Das liegt nach meiner Einschätzung aber zumindest teilweise daran, daß diese Untersuchung ja auch nicht mit der Intention konzipiert und durchgeführt wurde, betriebliche Probleme zu lösen, sondern mit dem Ziel, generelle Aussagen über die kulturellen Modelle ostdeutscher Arbeitnehmer zu erfahren. Dieses Wissen sollte auch nicht gegen entsprechende Bezahlung der Betriebsleitung zur Verfügung gestellt werden, sondern es sollte im universitären Kontext verwendet werden, nämlich für meine Promotion.

Wenn aber Ethnologen sich spezialisieren und tatsächlich als Berater in Unternehmen tätig werden wollen, dann müssen sie sich teilweise von den Fragestellungen und Methoden ihrer Disziplin entfernen.

Und tatsächlich fällt auf, daß Ethnologen, die sich als Berater für Unternehmen betätigen, in der Regel nur noch wenig Kontakt zur Mainstream - Ethnologie der Universitäten haben. Das wird besonders deutlich in den USA, wo es die Spezialisierung der Applied Anthropology mit eigenen Berufsverbänden, eigenen Publikationen und eigenen Tagungen gibt.

Ich denke, daß es grundsätzliche Unterschiede zwischen einer Ethnographie mit wissenschaftlicher Zielsetzung und einer zum Zweck der Beratung gibt. Diese sind hoffentlich an meinem Beispiel deutlich geworden sind, ich möchte sie aber noch kurz skizzieren. Der Kürze halber werde ich von universitären Ethnologen einerseits und Beratern andererseits sprechen.

  1. Universitäre Ethnologen interessieren sich für eine andere Art von Wissen als Unternehmensberater oder die Leitungen von Unternehmen.
  2. Wie in anderen Feldern auch werden Ethnologen in Betrieben und Organisationen versuchen, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen, die Malinowski als "the native's point of view" bezeichnete. In diesem Fall wäre das die "Perspektive der Mitarbeiter", die sich deutlich von einer notwendigerweise managementorientierten Beratungsperspektive unterscheidet.

    Die Orientierung am "the native's point of view" bedeutet auch, daß Ethnologen versuchen, die Mauern der Betriebe zu überschreiten, um Menschen nicht nur als Mitglieder von Betrieben oder Organisationen zu betrachten, sondern auch in ihren Bezügen als Familienmitglied, Wähler, Mitglied einer Gemeinde oder anderer Vereinigungen und Körperschaften. Geschichtliche Entwicklungen und der außerhalb der untersuchten Organisation herrschende Diskurs sollten ebenfalls Beachtung finden. Dies ist für eine Unternehmensführung nur bedingt von Interesse.

    Den universitären Ethnologen werden dagegen Rentabilitärserwägungen oder die Maximierung des Shareholdervalues nur in wenigen Fällen interessieren.

  3. Ethnologen sind in der Weitergabe von Informationen durch einen selbst auferlegten Ethikkatalog eingeschränkt.

In der Ethnologie sind zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder Diskussionen darüber entstanden, an welchen Werten und Zielen sich ethnologisches Handeln ausrichten sollte. Oft wurden die Diskussionen dadurch ausgelöst, daß Ethnologen Aufgaben und Funktionen übernommen hatten, die im Nachhinein als moralisch falsch angesehen wurden:

  • Das begann schon mit dem Einsatz von Ethnologen während der Kolonialzeit, die der Disziplin ihren ersten großen Aufschwung bescherte – dieser beruhte aber darauf, daß sie Informationen über die Bewohner kolonisierter Gebiete zusammentrugen, die deren Beherrschung erleichtern sollte.
  • Im 3. Reich waren unter den "Rassewissenschaftlern" viele Ethnologen und Volkskundler zu finden.
  • Und auch am "Project Camelot", das die US-Regierung ab den späten 60er Jahren durchführte, um Informationen über eine große Zahl feindlicher, aber auch befreundeter Länder zu erhalten, waren viele Sozialwissenschaftler und Ethnologen beteiligt. Sie untersuchten Regionen auf ihr "Aufstandspotential" hin und wie man mögliche Aufstände unterdrücken oder auch fördern könne.

Es gab also gute Gründe dafür, daß verschiedene ethnologische Organisationen und Berufsverbände Ethikkataloge aufstellten, denen allen etwas gemein ist: das Gebot, mit Informationen äußerst vorsichtig umzugehen, um vor allem Nachteile für die untersuchte Gruppe zu vermeiden. Dies kann zu scharfen Interessenkonflikten führen, wenn man sich der Geschäftsleitung gegenüber verpflichtet hat, z.B. betriebliche Abläufe zu optimieren oder Problemherde aufzuspüren.

  1. Monatelange Feldforschungen sind nicht geeignet für die schnelle Hilfe bei betrieblichen Problemen

Der besondere methodische Ansatz der Ethnologie, der ja ihre Besonderheit und ihre Stärke ausmacht, ist der lange und intensive Aufenthalt in der beforschten Gruppe. Dies wird aber wohl nur von wenigen Auftraggebern akzeptiert werden. Außerdem werden vermutlich nur wenige Manager Vertrauen zu den extrem qualitativen - d.h. schwer überprüfbaren! - ethnologischen Methoden haben. Hier wird auch relevant, was ich ganz zu Beginn meines Vortrags schilderte: die starke Abhängigkeit der Wirtschaftswissenschaften und damit auch vieler Manager von intellektuellen Moden, die ständig hin und her pendeln zwischen der Position, alles ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten zu sehen und dem Ansatz, psychologische und kulturelle Faktoren in Analysen mit einzubeziehen. Nur bei letzteren ist ein Interesse an qualitativen Methoden zu erwarten.

Trotz aller dieser Vorbehalte sehe ich aber doch ein Potential der Ethnologie, das für Betriebe und Organisationen nützlich sein könnte. Ich denke allerdings, daß es von Ethnologen zur Verfügung gestellt werden sollte, die sich auf wirtschaftliche Fragestellungen und Beratung spezialisiert haben. Dieses Potential liegt in der Fähigkeit der Ethnologen, Vorannahmen über die eigene Kultur zu reflektieren. Der Ethnologe Paul Rabinow hat gefordert, die westlichen Gesellschaften genauso wie die des Südens zu anthropologisieren (Rabinow 1986:241), d.h. zu zeigen, wie exotisch und irrational manche Verhaltensweise gerade in der Wirtschaft sind, wie kulturabhängig Tatsachen sind, die als universal ausgegeben werden und wie oft Bedingungen, die als Tatsachen oder unumgängliche Sachzwänge dargestellt werden, dies nur sind, solange man bestimmte kulturelle Vorgaben akzeptiert. Aufgrund der Distanz zur eigenen Kultur (Stichwort: der "fremde Blick"), die ein Ethnologe haben sollte, kann er Mythen hinterfragen und vorgebliche Sachzwänge entmystifizieren und so Ansätze zur Bewältigung scheinbar unlösbarer Probleme bieten.


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