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Achim Brosziewski und Christoph Maeder
Produkte der Ethnographie in der Produktion des Unternehmens
Einleitung
Die Produktivität der Ethnographie hat ihren Herkunftskontext,
die Ethnologie, längst überschritten. Die Beschreibung von Fremdheit
ist zu einem allgemeinen, keineswegs mehr befremdlichen Kulturgut geworden.
Es wird literarisch, journalistisch und zuweilen auch sozialwissenschaftlich
eingesetzt und ausgewertet (vgl. Brosziewski 2001). Fragt man übergreifend
nach den Produkten der Ethnographie, so bleibt man auf Texte verwiesen; auf
eine gewiss große Menge von Texten, die sich ganz verschieden sortieren
lassen und sortiert werden wollen: zur Kulturbereicherung, zum Erkentnisgewinn,
zur politischen Meinungsbildung, zur Stabilisierung moderner Identitäten
u.a.m. Aber all diese Zusätze bleiben Selbstbeschreibungen in und von Texten.
Nur: Über den Wert der ethnographischen Einzel- und Gesamtproduktionen
wird andernorts, "irgendwo jenseits" der Texte und Diskurse entschieden.
In jüngerer Zeit meldet die Ethnographie aber Ansprüche
an, um in die Jenseitigkeiten der Texte und literarischer Welten ausgreifen
zu können; zum Beispiel: der Unternehmensberatung gute Dienste leisten
zu können. Philosophen würden hier wohl an das Theorie-/Praxis-Problem
denken. Aber Theorie ist es doch wohl kaum, was die Ethnographie anbieten können
wollte. Und Praxis bildet für sie ja gerade den Gegenstand ihrer Texte.
Den wird sie doch nicht effektiv verändern wollen? Anhand eigener Erfahrungen
als Organisations- und speziell als Unternehmensethnographie möchte sie
sich diesen speziellen Gegenständen anbieten: zur Reflexion, zur Kulturgestaltung,
zur Strategiebildung, zur Beratung. Bislang jedoch kann sie auch hier nur Texte
vorlegen, mit denen die Gegenstände, wie es scheint, nicht allzuviel anzufangen
wissen. In Unternehmen geht es um Produktionen und Produkte anderen Typs, nicht
um die Verlängerung von Diskursen. Und Erfahrungen mit Zweifeln, Kulturen,
Strategien und Beratungen hat man hier hinreichend selbst gesammelt, so daß
man auf die Verdopplungen im Medium der Schrift gar nicht angewiesen ist und
sie angesichts knapper Kommunikationsressourcen wohl auch besser einsparen kann.
Will Ethnographie den Produktionen des Unternehmens eine Eigenleistung beibringen,
muss sie zeigen, daß sie mehr kann als nur texten.
Wir wollen diese Grenzüberschreitung mit Hilfe eines Brückenkonzeptes
begleiten und sprechen von "brauchbaren Artefakten" (siehe Maeder 2000). Texte
sind in diesem Konzept inbegriffen, aber nicht exklusiv. Man kann auch an Softwareprogramme,
an Messinstrumente, an Folienpräsentationen und vielleicht noch an ganz
andere Geräte denken. Das Attribut "brauchbar" soll die Frage offen
halten, ob, wie und von wem die fraglichen Artefakte als "brauchbar" eingeschätzt
werden. In der ethnographischen Selbstbeschreibung wird oft die "Besonderheit"
einer Perspektive, eines Blicks oder einer Haltung als ihr produktives Moment
angesehen. Wir fragen danach, ob und wie solch eine Besonderheit tatsächlich
so eingesetzt werden kann, daß ein Produkt daraus entsteht, das der Ethnographie
auch abgenommen wird. Wir stützen uns dabei auf Erfahrungen aus zwei Projekten:
einer ethnographisch angeleiteten Konstruktion eines Messinstrumentes zur Erfassung
von Pflegeleistungen in Krankenhäusern sowie einen Beratungsauftrag, bei
dem sich eine Computerfirma unserer Beobachtungsmittel und Perspektiven bediente,
um die Durchführbarkeit einer leistungs-, team- und kommunikationsorientierten
Bonusauszahlung abzuschätzen. Zunächst aber stellen wir (sehr knapp)
eine Unternehmenstheorie vor, die einerseits den Beratungsbedarf von Unternehmen
zu erklären erlaubt und andererseits schon in ihrer Grundstruktur eine
Stelle markiert, aus der sich das gegenseitige Interesse von Unternehmen und
Ethnographie ableiten lässt (Abschnitt 1). Mit den Mitteln dieser Theorie
lässt sich dann eine These zur basalen Differenz von ethnographischer und
handelsüblicher Unternehmensberatung formulieren (Abschnitt 2). Abschliessend
werden wir eines der beiden Projekte vorstellen und das brauchbare Artefakt
vorführen, das in dem Schnittfeld von Auftragsberatung und Ethnographie
entstanden (Abschnitt 3).
1. Die Produktion des Unternehmens
Dass das nachfolgend beschriebene Vorgehen keine Ethnographie
im üblichen Sinne darstellt, wird leicht ersichtlich sein. Es legt keine
Texte vor, die einem Aussenseiter zeigen könnte, was Insider des Unternehmens
oder der Spitäler sehen und wissen müssen, um Insider zu sein. Worin
wäre dann aber die Differenz zur normalen Unternehmensberatung zu sehen?
Schliesslich legt auch sie dem Management Instrumente und Folien zur Begutachtung
und Beschlussempfehlung vor. Und ist nicht allein schon durch Beauftragung und
Bezahlung jeder potentielle Unterschied unweigerlich verwischt? Wir wollen uns
diesem Problemkreis über den Umweg zweier Fragen nähern. Was produziert
eigentlich ein Unternehmen, und welchen Wert könnte eine ethnographische
Arbeit im Rahmen dieser Produktion überhaupt realisieren?
Die erste Teilfrage ist so rasch zu beantworten, dass sie trivial
vorkommen kann. Ein Unternehmen produziert Waren und / oder Dienstleistungen,
was sonst? Mit dieser Antwort rastet man jedoch unweigerlich in einen Ökonomismus
ein, dem man in der Folge nicht mehr entgehen kann - und der, wie zu zeigen
sein wird, die Produktion des Unternehmens selbst gar nicht erfassen kann. Zunächst
einmal macht es die Benennung von Waren und Dienstleistungen leicht zu
erkennen, dass ein Unternehmen auch anderes produziert. Dieses Andere
kann seinerseits unterschiedlich benannt werden. Ausser, neben und gleichzeitig
zu Waren und Dienstleistungen produziert ein Unternehmen auch Macht und
mit ihr Ideologien, die im Namen des Warenwertes die Machtproduktion
zu verbergen suchen. Eine zweite Variante, die andere Seite der unternehmerischen
Produktion zu bestimmen, liegt im Hinweis auf die Konsumchancen, die
sie via Lohneinkommen und Kapitalverzinsung den am Unternehmen Beteiligten eröffnet.
Ein Unternehmen produziert mithin, einen Schritt weiter gerechnet, Absatzchancen
für Waren und Dienste, die andere Unternehmen anzubieten haben -
wobei dann in der Trias von Preis-, Lohn- und Zinsdifferenzen auch die Produktions-
und Konsumchancen aller Beteiligten ausdifferenziert werden. Markt-, Macht-
und Ungleichheitstheorien können sich mithin gleichzeitig an der Unternehmensproduktion
entzünden - und "politische Ökonomie" scheint kaum mehr als eine ständige
gegenseitige Korrektur dieser Theorien zu sein. Auch die Ethnographie hat sich
daran beteiligt. Aber ob sie in diesem Gefecht ihre Zukunft findet, wollen wir
gar nicht beurteilen. Es hat mit unserem Thema auch nur hintergründig zu
tun.
Wir fassen all die genannten und vielleicht noch weitere, bislang
unterbelichtete Schattenseiten der unternehmerischen Produktion in der einfachen
Formel zusammen: Ein Unternehmen produziert sich selbst und Anderes. Da Produktion
hier wie sonst auch nicht als creatio ex nihilo begriffen werden kann, da Produktion
immer auch etwas abzieht, verbraucht und zum Verschwinden bringt, muss der Formel
noch ein weiterer Ausdruck hinzugefügt werden. Ein Unternehmen produziert
sich selbst und Anderes aus Anderem. Zu einer Zeit, als auch noch die Theorie
ihre Helden und Willensmenschen brauchte, wurde dieser Sachverhalt mit dem heroischen
Namen der "schöpferischen Zerstörung" belegt. In der Differenz von
Selbst und Anderem, verwandt auch mit dem Eigenen und dem Fremden, wäre
schon das Eintrittsbillet der Ethnographie zu erkennen - wenn es nur gelänge,
das genannte Selbst nicht in der verbrauchten Metapher des "Kollektivbewusstseins"
zu verdunkeln.
Ein Unternehmen produziert sich selbst, indem es eine Grenze
in das wirtschaftliche Mögliche zieht, durch diesen Schnitt das
Mögliche überhaupt erst erkennbar macht und dem Vergleich mit
dem Wirklichem, den gegebenen wirtschaftlichen Gewohnheiten und Routinen aussetzt
(vgl. Baecker 1993, Brosziewski 1997). Das Besondere einer Grenze ist ja, dass
eine andere Seite sichtbar und erreichbar wird. Dieses Merkmal unterscheidet
Grenzen von Schranken, die einen unvermeidlichen Stopp bedeuten. Nur erfordert
jedes Erreichen einer vorgestellten anderen Seite Arbeit und Zeit, die es braucht,
um von der Innenseite fort zu kommen. Im Versuch der Verwirklichung machen sich
Beschränkungen geltend. Ein Unternehmen produziert
- sich selbst (die Grenze)
- und Anderes (die Zweiseitigkeit der Grenze)
- aus Anderem (den Beschränkungen, die beim Kreuzen der Grenze strapaziert
werden).
Bekanntermassen wird ein Unternehmen, sobald es Geschichte
macht, das heisst eigene Erfolge verbuchen kann, auch sich selbst zur Beschränkung.
Es nistet sich auf der Seite der hergebrachten Erfolge, also im wirtschaftlich
Wirklichen ein. Die Zuständigkeiten festigen sich und die bislang zusammengetragenen
Privilegien bewehren sich. Niemand interessiert sich mehr für die Produktion
der Grenze und damit für die Produktion des Unternehmens selbst, solange
nur der Absatz weiterläuft und die laufenden Kosten nicht an den Lohn-
und Zinserträgen derjenigen zehren, die sich ihre Beschränkungen haben
abkaufen lassen. Ein Unternehmen, das gegen seine eigenen Erfolgsgeschichten
weiterhin eigene Zukunft machen will, muss daher nicht nur produzieren, sondern
sich notwendigerweise selbst darstellen - nach aussen wie nach innen.
Das breite und in seiner Arbeit so oberflächlich wirkende, auf "Inszenierung"
bedachte Spektrum der Unternehmensberatung findet in dieser Problemkonstellation
wahrlich tiefliegende Gründe.
2. Produktive Ethnographie
Wie findet sich die Ethnographie nach diesem Umweg über
die Produktion des Unternehmens wieder? Und jene kleinen Instrumente und Folien,
die sich mit ihrer Hilfe hervorbringen lassen? Auch sie sind nichts anderes
als Arbeiten an den Selbstdarstellungen des Unternehmens; eingeschränkt
durch die beauftragenden Problemdefinitionen und durch das Repertoire an Darstellungsmitteln,
die in der Adressatenkultur vertraut sind. Wir sehen die Differenz zur sonstigen
Beratung im Material, aus dem diese Problembeschreibungen gearbeitet sind. Die
übliche Beratung arbeitet - wie ein Blick in ihre Literatur und Praxis
schon zeigt - mit Erfolgsmodellen ("best practices" wäre der einschlägige
Insiderterm), seien sie erfahrungsgesättigt aus Erfolgsgeschichten
oder theoretisch aus Fallvergleichen abstrahiert. Das andere Unternehmen
respektive die anderen Unternehmen können irgendetwas besser
als das eigene. Es ist diese implizite Gleichung - "das Andere = das Bessere"
-, die durch einen ethnographischen Ansatz unterlaufen wird. Seine Arbeit geht
eine andere (nicht a priori "bessere", erfolgreichere) Richtung. Er versucht,
das Eigene, die eigenen Erfolgsgeschichten und Problemperspektiven so
zu sichten, dass aus ihnen eigene Grenzen, Erreichbarkeiten und Beschränkungen
in der Selbstdarstellung fassbarer und gegebenenfalls revidierbar werden. Die
Messinstrumente und Folien sind aus Kategorien- und Beschreibungsmaterial geformt,
die im Unternehmen selbst kursieren.
Selbstverständlich sind die Produkte selektiv, setzen
sie Gewichte und Werte, lassen sie herausfallen, was nicht qua Kontakt, Gespräch,
Beobachtung und Aufmerksamkeit zur Erhebung und Auswertung vorgedrungen ist.
Ethnographie ist keine Demokratie, in ihrer Produktion kein diskursives Verfahren.
Über den Erfolg der Ethnographie entscheidet die Abnahme, über den
Erfolg der Beratung das Unternehmen selbst und über den Erfolg des Unternehmens
jene Beschränkungen, die abzuarbeiten es sich auferlegen lässt. Konsequenterweise
wird die ethnographische Beratung nicht von sich sagen können, als (etwas)
andere Beratung sei sie besser als andere Beratungen. Sie ist nur anders, wahrscheinlich
für die Adressatenkultur etwas befremdlich - und vielleicht deshalb auch
für das ein oder andere Unternehmen, das sich zu sehr an sich selbst und
die normale Beratungskultur gewöhnt hat, attraktiv. Man hört sogar,
dass EthnographInnen gern von Beratungsunternehmen angeworben werden. Die Frage
wäre nur, ob sie dort auch ethnographisch arbeiten können oder nicht
doch auf die Produktion und den Verkauf von Erfolgsmodellen und "best practices"
verpflichtet werden.
3. Das Eigene darstellen: ein Beispiel brauchbarer
Ethnographie
Ende der Achtziger Jahre haben wir einen Auftrag bekommen,
die Pflegearbeit im Krankenhaus zu objektivieren und diese Objektivierung als
Instrument für das Pflegemanagement nutzbar zu machen. Es ging darum, ein
Messinstrument für die Pflegearbeit zu entwickeln, das in einem zweiten
Schritt in Form eines Computerprogrammes umgesetzt werden konnte. Das Resulat
ist mittlerweile eine registrierte Marke mit dem geschäftsmässigen
Titel LEP™. Das Kernstück von LEP besteht in der Anwendung aus einem
Variablenkatalog von 80 Tätigkeitskategorien. Eine Variable steht für
eine bestimmte pflegerische Tätigkeit, die einem Patienten oder einer Patientin
direkt zugeordnet werden kann. Jede einzelne Pflegevariable umfasst eine Bezeichnung,
eine Definition, illustrative Beispiele, eine Anwendungsanleitung und einen
festen Zeitwert. Der Zeitwert ist so ausgelegt, dass eine ausgebildete und berufserfahrene
Pflegeperson im Durchschnitt eine solche pflegerische Tätigkeit unter Einhaltung
der qualitativen Standards des Berufes ausführen kann. Die Zeitwerte sind
als normative Vorgaben konzipiert und absichtlich in der exklusiven Definitionsmacht
der Pflege verankert. Sie wurden und werden von einem Expertengremium unter
Zuhilfenahme von periodisch durchgeführten Arbeitszeitmessungen festgelegt.
Einmal täglich erhebt das Pflegepersonal pro Patient oder
Patientin, welche Variablen wie häufig zugetroffen haben. Diese sogenannten
"Patientendaten" über die applizierte Pflege bilden die eine
Seite des Instrumentes. Die andere Seite bilden die Arbeitszeiten des Personals,
die ebenfalls berechnet werden. Diese zwei Datenkategorien stellen die Grundlage
für zahlreiche Auswertungen dar, die nun möglich sind. Solche Auswertungen
dienen den Vorgesetzten der Pflege für die kurzfristige Steuerung ihres
Verantwortungsbereiches und den oberen Pflegekadern für die langfristige
Planung. Das Produkt lässt sich auf den ersten Blick von einem traditionell
hergestellten, quantitativen Messinstrument nicht unterscheiden.
Das Aussergewöhnliche des Instrumentes sehen wir nicht
in seiner Endform, als vielmehr in seinem Konstruktionsprozess. Die Grundlage
der Entwicklung dieses Instrumentes bilden Techniken der qualitativen Sozialforschung,
und zwar die der teilnehmenden Beobachtung mit Pflegenden auf den Stationen
und Gruppengespräche mit weiteren sachverständigen Personen aus der
Pflege, wie z.B. Pflege-Expertinnen mit Höherer Fachausbildung, Oberschwestern,
Leitungen Pflegedienst usw. An Rapporten, denen Funktionen wie Arbeitsplanung,
Arbeitsvergabe, Arbeitskoordination und Arbeitskontrolle zukommen, sind die
Pflegenden konstant damit beschäftigt, Beschreibungen ihrer Arbeit zu kommunizieren.
Im ersten Zugriff wurde denn auch nichts anderes hergestellt
als ein Lexikon der praktischen Tätigkeiten in der Sprache des Feldes.
Dieses rekonstruierte Lexikon als lebensweltliches Konstrukt erster Ordnung
(vgl. Eberle 1984: 81-147) besteht zumindest in der Schweiz – anderenorts mögen
andere Arbeitskategorien in den Zuständigkeitsbereich der Pflegenden fallen
– je nach Tätigkeitsbereich aus zwölf oder dreizehn Domänen in
der Bezeichnung der Tradition der ethnographischen Semantik (vgl. Maeder/Brosziewski
1997). Diese Domänen sind alle mit der Relation "ist eine Art Arbeit
in der Pflege" mit ihren semantischen Komplementen feinerer Abstufung verbunden.
Die Komplemente ihrerseits tragen Attributdimensionen der Aufwendigkeit von
"selbständig" bis "sehr aufwendig" im Bereich der sogenannten
"Grundpflege" oder sind im Bereich von sogenannter Behandlungspflege
nach den Anspruchsgraden aus Sicht der Pflegenden konnotiert. Diese Fachsprache
wurde in einem Prozess teilnehmender Beobachtung systematisch erschlossen und
in Anlehnung an Spradley (Spradley 1980: 140-154) mit dem kulturellen Thema
"Ist eine Art Arbeit der Pflegenden für den/die Patientin" verfeinert.
Dies wird in der Sprache des Feldes als "direkte Pflege" bezeichnet,
im Gegensatz zu den Arbeiten, die nicht an den Patienten und Patientinnen stattfinden.
Ergänzt um jene Arbeiten, die zwar nicht face-to-face mit zu versorgenden
Menschen stattfinden, aber einer hospitalisierten Person dennoch zugerechnet
werden können, erhielten wir so ein umfassendes und brauchbares Lexikon
der Pflegearbeit in der berufseigenen Sprachlichkeit. Insgesamt konnten 13 Domänen
der Arbeit in der Pflege rekonstruiert werden, die mit zwischen zwei und 15
Komplementen verbunden sind und so eine sehr präzise Beschreibung der Arbeiten
ergeben, die sich direkt auf zu versorgende Personen beziehen. Diese Domänen
– ein Begriff zur kategorialen Taxonomisierung von Wissensbeständen innerhalb
der kognitiven Anthropologie (vgl. D'Andrade 1995) – kommt eine zentrale Stellung
zu, da sie gewissermassen so etwas wie eine berufsgebundene Kurzstenographie
der Arbeit abgeben. In Organisationen, die rund um die Uhr und an 365 Tagen
im Jahr aktiv sind und demnach eine ständige Personalrotation benötigen,
ist der in einer solche Sprache eingelagerte Wissensbestand die Voraussetzung
für routinemässiges Funktionieren. Soziologisch formuliert sind die
erhobenen Kategorien insgesamt mit den ‚folk theories‘ und ‚cultural models
(Holland/Quinn 1987) der Pflegekultur gesättigt. Das Instrument wird von
den Pflegepersonen denn auch als korrekte Beschreibung ihrer Arbeit anerkannt.
Es wird in der organisatorischen Praxis vielerorts erfolgreich für die
Steuerung und Optimierung der Pflegearbeit und auch für die Vertretung
von Eigeninteressen des Berufs eingesetzt.
Die klassische Feldarbeit für diese Untersuchung wurde
zwischen 1989 und 1992 im Kantonsspital St. Gallen und im Universitätsspital
Zürich intensiv begonnen und seither sporadisch weitergeführt. Die
mit den Verfahren der ethnographischen Semantik gewonnenen Kategoriensysteme
zur Arbeitspraxis in der Krankenpflege im Spital konnten jedoch vor dem Hintergrund
der dominierenden Deutungskulturen naturwissenschaftlich-managerieller Art nie
als ethnographische Befunde ausgewiesen und als eine Ethnographie dargestellt
werden, da ja das explizite Ziel des Auftrags darin lag, ein Zahlensystem für
die Pflegenden zu konstruieren. Die erste Modellierung der Pflegearbeit in dieser
speziellen und ungewohnten Zahlenform erschien in Buchform (Güntert/Maeder
Christoph 1994) und wurde anschliessend verfeinert und den sich in den Neunziger
Jahren in Folge von diversen Reformprogrammen des Gesundheitswesens schnell
wandelnden Gegebenheiten in der Spitalorganisation immer wieder angepasst (Maeder
et al. 1998; Maeder et al. 1999a; Maeder et al. 1999b).
LEP ist inzwischen von fünf verschiedenen Softwarefirmen
programmiert worden und wird mittlerweile in mehr als 90 schweizerischen Spitälern
routinemässig eingesetzt. Gegen Ende 2000 stehen gar Pilotläufe mit
der Methode auf Intensivstationen in Deutschland an. Eine professionell geführte
Geschäftsstelle mit drei festangestellten Mitarbeitenden betreut den Verkauf
und die Wartung der in der Schweiz am weitesten verbreiteten Methode dieses
Typs. LEP hat sich in der Praxis als eine sehr gut brauchbare Art der Darstellung
von Pflegearbeit bewährt und gehört mittlerweile selber zur Arbeitskultur
der Pflege im Spital in der deutschsprachigen Schweiz. Wie fest das Instrument
bereits in der Pflege verankert ist, illustriert der folgende Vorfall. Als in
einem Warnstreik die Pflegenden in verschiedenen zürcherischen Spitälern
anfangs des Jahres 2000 auf alle administrativen Tätigkeiten verzichtet
haben, wurde LEP vom "Bleistiftstreik" ausgenommen und trotz seines
zweifellos administrativen Charakters weitergeführt.
Schluss
Als entscheidenden Punkt erachten wir, dass die durch das Messinstrument
aufgebaute und reproduzierte Ordnung an den Kriterien der Insidern der Pflegeorganisation
anschliesst und keine Standardmodelle von Managementberatern kopiert. Das Ziel
des Prozesses, die Rekonstruktion und Objektivierung der semantischen Struktur
der wichtigsten Arbeitskategorisierungen, kann nur anhand von Feldarbeit stimmig
geleistet werden. Wie zuvor ausgeführt, operiert die klassische Unternehmensberatung
mit der Vorführung des Fremden (die Modelle der best practice usw.) und
verkauft in aller Regel Wege für die Unternehmung, um sich diesem Fremden
und vermeintlich Besseren anzuschliessen, es zu inkorporieren und zum Eigenen
zu machen. Im Unterschied zu diesem Vorgehen operieren wir in unserer Form der
ethnographischen Beratung umgekehrt. Wir beschreiben und analysieren das Eigene
der Organisation. Dies geschieht zwar mit ethnographischem Wissen und mit ethnographischer
Technik, doch sind die Produkte dieses Zugriffs auf die organisationelle Wirklichkeit
keine ethnographischen Texte, sondern brauchbare Artefakte anderen Typs.
Literatur
Baecker, D., 1993: Die Form des Unternehmens. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Brosziewski, A., 1997: Unternehmerisches Handeln in moderner Gesellschaft.
Eine wissenssoziologische Untersuchung. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag.
Brosziewski, A., 2001: Die Form der Ethnographie. Perspektiven einer soziologischen
Ethnographie jenseits von Methodik und Rhetorik. Unv. Manuskript. St. Gallen:
Soziologisches Seminar der Universität St. Gallen.
Brosziewski, A./Bruegger, U., 2001: Zur Wissenschaftlichkeit von Messinstrumenten
im Gesundheitswesen: Am Beispiel der Methode LEP. Pflege. Die wissenschaftliche
Zeitschrift für Pflegeberufe 14 (im Druck).
D'Andrade, R., 1995: The Development of Cognitive Anthropology. Cambridge:
Cambridge University Press.
Eberle, T.S., 1984: Sinnkonstitution in Alltag und Wissenschaft. Der Beitrag
der Phänomenologie an die Methodologie der Sozialwissenschaften. Bern:
Haupt.
Güntert, B.J./Maeder Christoph, 1994: Ein System zur Erfassung des Pflegeaufwandes.
Darstellung der Methode SEP des Universitätsspitals in Zürich. Muri:
Schriftenreihe der SGGP Nr. 37.
Holland, D./Quinn, N. (eds.), 1987: Cultural Models in Language and Thought.
Cambridge: Cambridge University Press.
Maeder, C., 2000: Brauchbare Artefakte. Statistiksoftware für das Pflegemanagement
im Spital als das Produkt ethnographischer Arbeit. Schweizerische Zeitschrift
für Soziologie 26: 685-703.
Maeder, C., 2001: Der moralische Kreuzzug des New Public Management in der
Schweiz. sozialer sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung
2:
Maeder, C./Brosziewski, A., 1997: Ethnographische Semantik. Ein Weg zum Verstehen
von Zugehörigkeit. S. 335-362 in: Hitzler, R./Honer, A. (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche
Hermeneutik. Eine Einführung. Opladen: Leske + Budrich.
Maeder, C./Bruegger, U./Bamert, U., 1998: Beschreibung der Methode LEP: Anwendungsbereich
Gesundheits- und Krankenpflege für Erwachsene und Kinder im Spital. St.
Gallen und Zürich: Kantonsspital St. Gallen und Universitätsspital
Zürich.
Maeder, C./Brügger, U./Bamert, U., 1999: Beschreibung der Methode LEP.
Grundmodul Psychiatriebereich. St. Gallen: Kantonsspital St. Gallen und Universitätsspital
Zürich.
Maeder, C./Brügger, U./Bamert, U., 1999: Beschreibung der Methode LEP.
Anwendungsbereich Gesundheits- und Krankenpflege für Erwachsene und Kinder
im Spital. St. Gallen/Zürich: Kantonsspital St. Gallen und Universitätsspital
Zürich.
Spradley, J.P., 1980: Participant Observation. New York: Holt, Rinehart and
Winston.
Werner, O./Schoepfle, M.G., 1987a: Systematic Fieldwork. Foundations of Ethnography
and Interviewing. Newbury Park, London, New Dehli: Sage.
Werner, O./Schoepfle, M.G., 1987b: Systematic Fieldwork. Ethnographic Analysis
and Data Management. Newbury Park, London, New Dehli: Sage.
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