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Stefan Kühl
Rationalitätslücken als Ansatzpunkt einer
soziologischen Beratung
Überlegungen zu einem "Quellcode" für einen sozialwissenschaftlichen
Beratungsansatz
Unkorrigierte Fassung Unvollständiges Literaturverzeichnis
Einleitung
Liest man die Berichte und Darstellungen über Veränderungsprojekte
in Unternehmen, dann zeichnen sich diese durch ein hohes Maß an Konsistenz,
Schlüssigkeit und Rationalität aus. Unabhängigkeit ob es sich
um die Einführung eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses, die Entwicklung
einer neuen Unternehmensstrategie oder die Etablierung einer teamorientierten
Aufbauorganisation handelt die Erfolgsgeschichten sind in der Regel Schilderungen
von rational geplanten Reorganisationen. Zwar wird von Hindernissen, Widerständen,
Unwägbarkeiten und Unvorgesehenem berichtet, aber diese Probleme werden
in der Regel von den Prozessverantwortlichen (die häufig identisch mit
den Autoren der Beiträge sind) durch einen plötzlichen Einfall, ein
neu entwickeltes Werkzeug oder durch eine gewagte Intervention erfolgreich bewältigt.
In einem gut geplanten und flexibel angelegten Reorganisationsprozess, so der
Tenor der Darstellungen, sind die Beteiligten in der Lage auch mit solchen Herausforderungen
umzugehen.
Diese rationalen Beschreibungen von Veränderungsprojekten, die man schon
in so prominenten Schilderungen wie die Einführung von Divisionsstrukturen
bei Dupont, der Einführung des Fließbandes bei Ford oder die Entwicklung
des japanischen Lean Managements vom Toyota Chef Ohno finden konnte, sind charakteristisch
für Selbstbeschreibungen, die Organisationen von sich anfertigen (vgl.
Kieser 1994: 199; Kieserling 1994: 4). Organisationen verstehen sich in der
Regel als System zur Anfertigung rationaler Entscheidungen, in denen traditionelle
Überlieferungen oder autoritäre Anweisungen eigentlich keinen Platz
haben sollten. Irrationalitäten, Ignoranzen oder Vergesslichkeiten, so
die Vorstellung, können eindeutig als Fehler oder abweichendes Verhalten
markiert werden und bei entsprechender Bereitschaft und Befähigung der
Beteiligten durch rationalere Entscheidungsprozesse ersetzt werden.
Diese stringenten und schlüssigen Selbstbeschreibungen, die man im Gros
der Managementbücher, in vielen Artikeln der Wirtschaftspresse oder in
den Foliengewittern auf Managementkonferenzen finden kann, stehen in auffälliger
Diskrepanz zu den Beschreibungen, die man von distanzierten Beobachtern über
Veränderungsprozesse hört. Da fällt auf, dass diese Fremdbeschreibungen
mit den Selbstbeschreibungen der Organisation wenig zu tun hat. Da werden Reorganisationsprojekte
gestartet, nur damit in der Organisation alles beim alten bleiben kann. Da werden
trotz existierender Assessmentcenter Mitarbeiter nicht wegen ihrer Eignung eingestellt,
sondern weil es gut etablierte Netzwerke zwischen den Absolventen einer Hochschule
gibt. Da werden Markterfolge nicht als das Ergebnis umfassende Szenarien- und
Strategiekonferenzen erzielt, sondern sie entstehen als das Ergebnis zufälliger
Erfindungen oder plötzlicher Marktveränderungen. Das Leben in den
Organisationen scheint viel aufregender zu sein als es die schlüssigen
und rationalen Selbstbeschreibungen erscheinen lassen und sie scheinen sich
den rationalen Masterplänen des Change Management zu entziehen.
Organisationen, darauf hat James March einmal aufmerksam gemacht, verändern
sich ständig und häufig, aber in der Regel nicht so wie es die Beteiligten
in einer Organisation wollen. Unternehmen befinden sich in einem ständigen,
routinemäßigen, mühelosen und reaktiven Veränderungsprozess,
der sich aber und das ist die Crux für die Beteiligten - nicht nach Belieben
steuern lässt. Organisationen reagieren auf die Umwelt, aber sie verändern
sich dann nicht wie es eine Gruppe aus Managern und Beratern ausgeheckt hat.
Manchmal werden die Anweisungen nicht befolgt. Manchmal werden sie stärker
umgesetzt als man eigentlich bezweckt hat. Nur ganz selten scheinen Organisationen
genau das zu tun, was man ihnen aufgetragen hat. (vgl. March 1990b: 188f)
Eine soziologisch aufgeklärte Beratungstheorie und
praxis muss diese Diskrepanz zwischen den rationalen, schlüssigen Selbstbeschreibungen
der Organisation und den wahrzunehmenden paradoxen Effekten, Ungereimtheiten,
Steuerungsschwierigkeiten ernstnehmen (und erklären können). Es reicht
dabei nicht aus wie es in einem Strang der systemischen Beratung getan wird
den rationalen Selbstbeschreibungen der Organisation lediglich eine alternative
Beschreibungsform entgegenzusetzen. Eine soziologische Beratungstheorie muss
sowohl die Widersprüchlichkeiten und Ambiguitäten in Organisationen
als auch die vereinfachenden Selbstbeschreibungen in ihren Funktionalitäten
erklären können. Es geht quasi um Metaperspektive, in der die simplifizierenden,
mythisch und fiktiv wirkenden Beschreibungsansätze nicht als zu verurteilende
Kontrastfolie gesehen werden, sondern in ein übergreifendes Organisationskonzept
integriert werden. Sowohl die für den Beobachter simplifizierend wirkenden
Selbstbeschreibungen der Organisation als auch die komplexitätsaufbauenden
(in ihrer Form aber auch wieder simplifizierenden) Fremdbeschreibungen müssen
in einem umfassenden soziologischen Beratungstheorie und -praxis integriert
sein.
Es kann nicht Aufgabe dieses Artikels sein, eine solche
Beratungstheorie und praxis in ihren verschiedenen Facetten zu entwickeln.
Es geht mir vielmehr, darum zu prüfen, ob sich das Konzept der "Rationalitätslücke"
(oder besser "Zweckrationalitätslücke") als eine Art "Quellcode"
für eine soziologisch aufgeklärte Beratung eignet. Unter "Quellcode"
wird in der Informatik ein Basisprogramm im Betriebssystem verstanden, auf dem
alle anderen Anwendungsprogramme aufbauen können. Die Diskussion über
einen "Quellcode" für eine soziologische Beratung halte ich für
sinnvoll, weil es ermöglicht die Beratungsdiskussion darauf zu fokussieren,
aus welchen Wurzeln eine soziologische Beratung erwachsen kann und wie sie sich
dadurch von anderen Beratungsansätzen unterscheidet. Die Hoffnung wäre,
dass die in der Beratungsszene beginnende Diskussionen über den Wandel
von offensichtlichen und versteckten Strukturen, über die Bedeutung von
Macht in Beratungsprozessen und die Rolle von Mythen und Fiktionen könnten
so in ein umfassenderes Verständnis von Beratung und Organisation eingeordnet
werden kann.
2. Organisationsstrukturen und Rationalitätslücken:
Warum es in Organisationen Widersprüchlichkeiten gibt?
Wenn man sich als Außenstehender intensiv mit einer größeren
Unternehmung, einer Verwaltung oder einem Verband beschäftigt, stellt sich
nicht selten eine Ehrfurcht ein, dass bei allen zu beobachtenden Widersprüchlichkeiten,
Ungeklärtheiten, chaotischen Abläufen und Überraschungen am Ende
ein mehr oder weniger überzeugendes Produkt herauskommt. Beim Studium der
vielfältigen Strategien, mit denen in einem Automobilkonzern die Produktionsplanungssysteme
im Werkstattbereich "per hand" und "unter der Hand" angepasst
werden, überrascht es, dass am Ende eine nicht unerhebliche Anzahl von
VW Golfs das Fließband verlassen. Es verwundert auf den ersten Blick,
dass trotz der chaotisch wirkenden Abläufe bei der Deutschen Bahn am Ende
des Tages ein überzeugender Prozentsatz der Züge (wenn auch mit gelegentlichen
Verspätungen) ihren Zielbahnhof erreicht.
Organisationen grenzen sich bei allem Chaos - in ihrer Zuverlässigkeit
auffällig von anderen sozialen Ordnungen wie Treffen in Freundeskreisen,
sozialen Bewegungen oder religiösen Initiativen ab. Freundeskreise, soziale
Bewegungen oder religiöse Initiativen weisen nicht den gleichen Grad von
Berechenbarkeit auf wie Organisationen. Bei DaimlerChrysler oder beim Außenministerium
weis man in der Regel, welche Stimmen aus dem Verwaltungszentrum als Meinung
der Gesamtorganisation zu begreifen sind und welche eher als persönliche
Stellungnahme wahrgenommen werden sollten. Bei Freundeskreisen, Bewegungen und
Initiativen ist diese Eindeutigkeit nicht so leicht herstellbar. Wer war der
Sprecher der Friedensbewegung? Wer hat das Recht im Namen eines Freundeskreises
zu sprechen?
Dies hängt auch damit zusammen, dass es Organisationen gelingt im Vergleich
zu anderen sozialen Ordnungen eine gewisse Dauerhaftigkeit herzustellen. Im
Vergleich zu vielen Organisationen scheinen auch der sich auf Kneipentour befindliche
Freundeskreis, die Bewegung zur Verhinderung amerikanischer Mittelstreckenraketen
oder die Jugendinitiativen zur Verhinderung vorehelichen Geschlechtsverkehrs
amerikanischer Teenager schnell wieder von der Bildfläche zu verschwinden.
Organisationen gelingt es auch wie es die Fälle des YMCA oder der Scientology
Kirche zeigen radikale Zweckwechsel beispielsweise von einer religiösen
Vereinigung zu einer profitorientierten Unternehmung durchzuführen ohne
ihr Klientel oder ihre Mitarbeiter allzu sehr zu verwirren.
Organisationen scheinen über "Tricks" zu verfügen, die
internen Kommunikationsprozesse beständig, berechenbar und regulierbar
zu machen und so zu verhindern, dass die internen Prozesse zu einer reinzufälligen
Ansammlung von Kommunikationen "verkommen". Die Worte, die in der
Organisationspraxis und der Organisationswissenschaft für diese Tricks
gebraucht werden, sind "Organisationsstruktur" oder "Entscheidungsprämissen".
Sie dienen dazu, dass Entscheidungen nicht als ein einmaliges Ereignis verpuffen,
sondern ihnen eine Dauer verliehen werden kann.
Die Mitarbeiter sind über Mitgliedsrollen an diese Strukturen gebunden.
Wenn man als Person in eine Organisation kommt, kann man nicht einfach irgend
etwas machen. Die Zugehörigkeit zu einer Organisation ist nicht wie bei
der Mitgliedschaft in einer Familie oder einem Staatswesen natürlich gegeben.
Sie hängt vielmehr davon ab, ob man sich an die Erwartungen hält,
die an ein Mitglied gestellt werden. Die Verantwortlichkeiten, Weisungshierarchien,
Kontrollmechanismen, Ämterstrukturen, Kommunikationswege, Ressourcenverteilung
müssen eingehalten werden, sonst drohen Sanktionen der Organisation. Über
die formulierten Mitgliedschaftserwartungen können Unternehmen, Verbände,
Verwaltungen und andere Organisationen sicherstellen, dass die Organisationsmitglieder
Handlungen ausführen, die nicht unbedingt in ihrer eigenen tiefergehenden
Motivationsstruktur begründet liegen. Niklas Luhmann prägnant dazu:
"Die Soldaten marschieren, die Schreiber protokollieren, die Minister regieren
ob es ihnen in der Situation nun gefällt oder nicht." (Luhmann 1975c:
12; siehe auch Luhmann 1994a: 89f; Deutschmann 1987: 135; Schimank 1997: 312)
Die "Organisationsstrukturen" oder "Entscheidungsprämissen"
sind auf den ersten Blick erst einmal Einschränkungen. In den Organisationen
wird sehr viel Phantasie und Zeit darauf verwendet, über Personaleinstellungsverfahren,
Arbeitsverträge, Arbeitszeitgestaltungen, Arbeitsteilungen, Controllingmechanismen,
Stellenhierarchien die Vielfalt an Kommunikation einzuschränken (vgl. Baecker
1997b: 20). Alle Strukturen verhindern erst einmal eine Vielzahl von Kommunikationsmöglichkeiten.
Eine Arbeitszeitregelung beschränkt, wann in einer Organisation kommuniziert
(das heißt marschiert, protokolliert oder regiert) werden darf. Eine Stellenhierarchie
legt fest, wer mit wem offiziell reden darf und wer nicht. Die Arbeitsteilung
bestimmt, wer welche Arbeiten machen muss und (ganz besonders interessant) wer
welche Arbeiten nicht verrichten darf.
Durch diese Strukturen, entwickeln Organisationen einen hochselektiven Blick.
Sie entwickeln eine hohe Sensibilität für Bestimmtes und eine ausgeprägte
Insensibilität für alles übrige. Ein deutscher Automobilkonzern
interessiert sich nicht für die Änderung der Agrarbestimmungen in
Frankreich (und hat auch keine Routinen um diese wahrzunehmen). Eine Internetfirma
hat kein Auge für die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt für Reinigungsfachkräfte
(außer wenn sie virtuelle Reinigungstätigkeiten anbietet). Eine Firma,
die keine Schichtarbeit nötig hat, entwickelt keine Routinen, um die neusten
Studien zur Belastung bei Nachtarbeit wahrzunehmen. (vgl. Luhmann 1993s: 250;
Groth 1999: 74)
Dieses hohe Maß an Selektivität ist funktional, weil nur so sich
eine Organisation gegenüber ihrer Umwelt abgrenzen kann. Organisationen,
so könnte man überspitzt ausdrücken, können nur existieren,
weil sie sich durch ihre Strukturen einen hochselektiven Blick geben und sich
so gegen die Komplexität der Welt abschotten.
Aufgrund der Begeisterung dafür, wie Organisationen in der Lage sind Operationen
auf Dauer zu stellen, hat sich in Teilen der Managementlehre, Betriebswirtschaft
und Verwaltungswissenschaft die Metapher der Maschine durchgesetzt. Die Überlegung
ist gewesen, dass Organisationen wie Maschinen ihre Komplexität dadurch
reduzieren, dass sie einen eindeutigen Zweck haben und alle Mittel auf diesen
einen Zweck ausgerichtet werden. Organisationen sollen wie Maschinen nach einem
genauen Plan funktionieren und dabei möglichst wenig Reibungsverluste haben.
Organisationen sind dabei wie Maschinen ein in sich geschlossenes Ganzes, dass
sich aus präzise definierten Einzelteilen zusammensetzt. Die Funktion dieser
Einzelteile ist strikt auf die Funktion der Maschine als Ganzes ausgerichtet.
Um die Gesamtfunktion zu gewährleisten, müssen die Beziehung zwischen
diesen Einzelteilen in eindeutigen Wenn-dann-Ketten geordnet werden. (Bardmann
1994: 260f; Luhmann 1997: 153)
Mit der folgenden Ableitung der Rationalitätslücke bin ich noch sehr
unzufrieden. Ich würde mich freuen, wenn dieser Punkt in der Diskussion
vertieft werden könnte.
Aber diese Beschreibungen als Maschinen scheinen (vorsichtig formuliert) für
die meisten Organisationen nicht zuzutreffen. Die Strukturbegeisterung in der
frühen Organisationstheorie, die Planungseuphorien der sechziger und siebziger
Jahre und die Beschreibungen von Unternehmen in Maschinenmetaphern wird zunehmend
mit Stichwörtern wie "Unsicherheit", "Unsteuerbarkeit",
oder "Kontingenz" in Frage gestellt. Diese Stichwörter weisen
auf etwas hin, was man als "Rationalitätslücken" oder "Zweckrationalitätslücken"
bezeichnen kann. Der Begriff der "Rationalitätslücken" oder
genauer der "Zweckrationalitätslücken" bezeichnet die Unmöglichkeit,
Organisationen ausgehend von einem Metazweck durchzukonstruieren. Was steckt
hinter diesem Gedanken?
Erstens gibt es die folgeschwere Situation, dass es keine eindeutige Umwelt
gibt, auf die sich eine Organisation beziehen kann. Durch die verhaltenswissenschaftliche
Entscheidungstheorie ist empirisch herausgearbeitet worden, dass Organisationen
in der Regel auf der Basis einer Vielzahl von inkonsistenten und schlecht definierten
Präferenzen operieren. (March/Simon 1976; Cohen/March/Olsen 1990: 330f).
Unternehmen können sich nicht alleine auf das Ziel der Profitmaximierung
konzentrieren. Sie müssen beispielsweise auch Anforderungen der Politik,
der Gewerkschaften, der Verbraucherverbände oder von Umweltschutzinitiativen
in ihr Kalkül aufnehmen. Da eine Abteilung damit überfordert wäre,
alle verschiedenen Umweltanforderungen gleichzeitig zu bearbeiten, bilden Organisationen
intern verschiedene Funktionsbereiche aus, die jeweils auf die Bearbeitung einer
Umweltanforderung spezialisiert sind. Die Abteilung Marketing und Verkauf ist
das Scharnier zum Kunden. Die Abteilung Public Relation sorgt dafür, dass
die Politik ein möglichst positives Bild der Organisation hat. Die Rechtsabteilung
kümmert sich um Legalitätsprobleme und die Abteilung Arbeitspolitik
besänftigt die Gewerkschaften.
Dadurch das die unterschiedlichen Umweltanforderungen in der Organisation selbst
abgebildet werden, entstehen inkonsistente Organisationen. Die Auseinandersetzung
zwischen Rechtsabteilung, dem Bereich Forschung- und Entwicklung, der Presseabteilung
und der Stabsstelle Arbeitspolitik, ob ein Produktionsverfahren eingeführt
wird oder nicht, ist ein Konflikt, der durch die unterschiedlichen Umweltbezugspunkte
der einzelnen Abteilungen entsteht. Konsequenz dieser Ausrichtung der Organisation
auf ganz verschiedene Umwelten ist, so Veronika Tacke, dass zwar unterschiedliche
Umweltanforderungen bearbeitet werden können, jedoch die Organisation intern
keine Rationalisierung mehr in Hinblick auf lediglich ein Bezugsproblem vornehmen
kann. (Tacke 1997a: 12; siehe auch Buenger/Daft 1988: 198; Luhmann 1994a: 196).
Die stringente auf einen Zweck ausgerichtete Organisation ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Zweitens gibt es keinen Urgrund, auf den sich die Organisation mit ihren Strukturen
beziehen kann. Es gibt, so Luhmann, keine abstrakte Rationalitätsgarantie
etwa in der Form von Prinzipien, die lediglich über Entscheidungsprämissen
in Entscheidungen übersetzt werden müssten. Organisationen seien vielmehr
nichttriviale Systeme, die sich "laufend in einen bestimmten konkreten
Zustand versetzen, auf den sie sich beziehen müssen, wen sie entscheiden
wollen, wie es weitergehen soll." Dieser Bezugspunkt der operativen Selbstreferenz
(der jeweils realisierte Zustand) kann nur in sehr groben Umrissen antizipiert
werden. Begriffe wie "Zeit" und "Zukunft" hätten genau
den Sinn, die Unbestimmbarkeit in die Gegenwart einzuführen. Die Koordination
von Entscheidungsprämissen muss gemacht werden, aber sie ist lediglich
eine Kompensation für das Unvermögen der Organisation, die konkreten
historischen Systemzustände vorauszusehen und zu determinieren. (Luhmann
1997: 193)
Drittens determinieren die Organisationsstrukturen nicht,
welche Entscheidungen in einer Organisation getroffen werden. Die Festlegung
eines komplexen Anweisungs- und Informationsweges schließt nicht aus,
dass Mitarbeiter sich ganz unabhängig von dem hierarchischen Regelwerk
unterhalten. Hierarchie kann nicht endgültig verhindern, dass die Mitarbeiterin
aus der Abteilung A mit dem Mitarbeiter B den Dienstweg sträflich missachten
und am Kantinentisch darüber diskutieren, wie ein Problem zwischen den
Abteilungen zu lösen ist. Eine technisch ausgefeilte Fließbandproduktion
kann nicht völlig ausschließen, dass die Mitarbeiter in Eigenregie
sinnvolle oder nicht sinnvolle Abkürzungen und Vereinfachungen vornehmen.
Die Einstellung einer Juristin als Leiterin der Personalabteilung kann nicht
gewährleisten, dass alle Personalentscheidungen unter dem Primat des Rechtssystems
getroffen werden. Organisationsstrukturen bzw. Entscheidungsprämissen machen
bestimmte Entscheidungen wahrscheinlicher und andere unwahrscheinlicher, aber
sie determinieren Entscheidungen in der Regel nicht.
Viertens können hochstandardisierte Entscheidungsabläufe nur dann
ausgebildet werden, wenn andere Teile der Organisation sich darauf spezialisieren,
die Umweltunsicherheiten in eindeutige Anweisungen zu übersetzen. Selbst
dort wo Teile der Organisation scheinbar eindeutig zweckrational ausgerichtet
werden können, würde man sich täuschen, wenn man diese Vorgehensweise
als Gesamtmodell für die Organisation proklamieren würde. Es ist möglich
in Teilen der Organisation eindeutige Wenn-dann-Programme einzuführen.
Eine Fließbandproduktion oder ein hochstandardisiertes Callcenter entsprechen
sicherlich auf den ersten Blick dem Bild einer Maschinenorganisation. Diese
standardisierte, zweckrationale Organisationsform, darauf hat James Thompson
(1967) aufmerksam gemacht, wird jedoch dadurch erkauft, dass spezielle Einheiten
ausgebildet werden müssen, die nichts anderes zu tun haben, als die von
außen kommende Unsicherheit in eindeutige Anweisungen für den zweckrational
ausgerichteten "technischen Kern" zu übersetzen.
Diese Rationalitätslücken äußern sich in einer Vielzahl
von Dilemmata, Widersprüche und Paradoxien. Unternehmen brauchen beispielsweise
klare Zielvorstellungen, aber auch die Bereitschaft, möglicherweise von
den festgelegten Zielen abzuweichen. Es ist sinnvoll, dass sich Mitarbeiter
mit Prozessen identifizieren, gleichzeitig behindert diese Identifikation aber
auch die notwendigen Veränderungen. Eine Beteiligung von Mitarbeitern kann
Wandlungspotenziale freisetzen, eine zu starke Einbeziehung der Mitarbeiter
erschwert jedoch die Fokussierung des Unternehmens. Selbstorganisation kann
hilfreich sein, weil Lösungen vor Ort entwickelt werden, häufig gewährleistet
jedoch die Fremdorganisation eine höhere Originalität der Lösung.
Unternehmen sehen sich der Notwendigkeit ausgesetzt, in Organisationen Freiräume
für Innovationen zu schaffen. Dieser Aufbau von Puffern lässt jedoch
häufig den organisatorischen Schlendrian einziehen. Organisationen sind
auf erfolgreiche Lernprozesse angewiesen, aber gerade erfolgreiche Lernprozesse
sind für den Niedergang von Unternehmen verantwortlich. Deswegen kann gerade
die Vermeidung von Lernen eine sinnvolle Strategie sein. (vgl. Kühl 2000:
152ff)
Die in Organisationen vorhandenen Rationalitätslücken sind in letzter
Konsequenz die einzige Existenzberechtigung für Führungskräfte
(und für Berater). Wenn alle Mitarbeiter in eindeutige Wenn-dann-Programme
eingebunden sind, also bei einer vorher definierten Situation lediglich eine
vorher festgelegte Reaktion zeigen müssen, dann sind Führungskräfte
überflüssig. Das Geschehen erweckt den Eindruck von Naturgesetzlichkeiten,
die durch die "Wiederholung des immer Gleichen" fortwährend aufs
Neue stabilisiert werden. Erst wenn es mehrere konkurrierende
Ziele gibt, die Umstände nicht völlig gleich sind und Widersprüchlichkeiten
und Unschärfen auftreten sind Manager notwendig, um diese Unklarheiten
zu handhaben. (vgl. Barnard 1938: 21; Neuberger 1990: 146; Neuberger 1995b:
102; Fontin 1997: 59).
Durch die Bearbeitung der Rationalitätslücken
durch Führungskräfte (und Berater) werden diese jedoch nicht aus der
Welt geschaffen, sondern vielmehr in eine bearbeitbare Form gebracht. Widersprüchlichkeiten
lassen sich von Führungskräften in der Regel nicht auflösen,
sondern es lassen sich nur mehr oder minder geeignete Umgangsformen dafür
finden. Dilemmata und Paradoxe werden in Organisationen eher neutralisiert als
gelöst. (Weick 1985: 351; Handy 1994: 11)
3. Der Umgang mit den Rationalitätslücken
in der "klassischen" Experten- und Prozessberatung
Auf welche Weise wird mit diesen Rationalitätslücken in Beratungsprojekten
umgangen? Die "klassischen Beratungsansätze" - die Expertenberatung
und die an der Organisationsentwicklung orientierten Prozessberatung - würden
nicht bestreiten, dass es solche Rationalitätslücken in Organisationen
gibt. Im Gegenteil: Häufig wird in der Acquisephase eine dramatische Skizze
von Rationalitätslücken in Unternehmen und derer Folgen gezeichnet.
Die Unternehmensspitze wird von den Beratern auf die in den Vorgesprächen
festgestellten Ungereimtheiten, Irrationalitäten und Unschlüssigkeiten
hingewiesen. In drastischen Worten werden die "Megatrends" Globalisierung,
Digitalisierung und Wertewandel und ihre Folgen für die Unternehmen dargestellt.
Es wird mit Verweis auf Best-Practice-Unternehmen herausgearbeitet, wie intelligent
die Konkurrenz bereits auf diese Herausforderungen reagiert und wie rückständig
das Kundenunternehmen ist.
Zweck dieser Darstellungen ist nicht ein möglichst komplexes "objektives"
Bild der Umwelt eines Unternehmens zu zeichnen, sondern vielmehr eine Sensibilität
für vermeintliche Handlungsnotwendigkeiten des Unternehmens zu schaffen.
Die möglichen Rationalitätslücken der Unternehmen werden drastisch
dargestellt, weil sich an diese Verunsicherung eines Unternehmens die Beratungsfirmen
mit ihren Projekten anlagern können.
Das Besondere der klassischen Experten- und Prozessberatungsansätze ist,
dass sie die für ihre vermeintlichen Rationalitätslücken sensibilisierten
Unternehmen mit einer verlockenden Zukunft konfrontieren. Die Klienten werden
mit einem "schöneren Bild" der Organisation konfrontiert, das
durch einen Beratungsprozess erreicht werden könnte. Die von Beratungsfirmen
aufgegriffenen oder teilweise auch selbst produzierten Organisationsleitbilder
wie Lean Management, Fraktales Unternehmen, segmentierte Firma oder wissensbasierte
Organisation stellen die Farbelemente auf der Palette von Beratungsfirmen dar,
mit denen für jedes Unternehmen ein mehr oder minder spezifisches Bild
der verlockenden Zukunft gemalt wird.
Expertenberatung und die an dem Paradigma der klassischen Organisationsentwicklung
orientierte Prozessberatung unterscheiden sich nicht darin, dass ein
schönes Bild der "zukünftigen Realität" gemalt wird,
sondern nur darin, wie dieses schöne Bild entsteht. Bei der Expertenberatung
á la McKinsey, Arthur Anderson oder Roland Berger ergreift der Berater
selbst den Pinsel und zeichnet ein Bild, dass dem Auftraggeber (nicht unbedingt
allen Mitarbeitern) attraktiv erscheint. Dieses Bild in Form eines Gutachtens
oder einer Präsentation ist im Idealfall so konkret und greifbar, dass
sich der Auftraggeber nur dafür entscheiden muss, dieses Bild an die Wand
seines Büros zu hängen und die Organisation gemeinsam mit den Beratern
nach diesem Bild umzubauen. Bei einem Organisationsentwicklungsprozess wird
das Bild nicht von den Beratern gemalt, sondern es wird dem Auftraggeber vermittelt,
dass man als Berater sowohl die Farben als auch die handwerklichen Fähigkeiten
hat, um gemeinsam mit den Mitarbeitern ein attraktives Bild des Unternehmens
zu zeichnen und die Organisation dann gemeinsam nach diesem Bild umzubauen.
Bei allen Unterschieden in der Durchführung des Malprozesses haben beide
Ansätze gemein, dass sie auf einer "Ästhetisierung" der
Unternehmenszukünften aufbauen. Als Ästhetisierung hat Oswald Neuberger
(1994) den Prozess beschrieben, mit dem in Unternehmen durch gefilterte Reportings,
Organigrammen oder Netzplänen ein Bild des eigenen Unternehmens gezeichnet
wird, das mit der Dynamik, Vielfältigkeit und Mehrdeutigkeit in Unternehmen
nichts oder nur wenig zu tun hat. Im trügerischen Windschatten ausgegrenzter
Komplexität und ungelöster Konflikte wird eine zweite Realität
kultiviert, die mit der Realität inner- und außerorganisatorischer
Prozesse nicht zu tun hat (vgl. Weltz/Ortmann 1992). Letztlich, so Neuberger
(1994), käme in diesen Ästhetisierungen die unausgesprochene Managersehnsucht
nach Unternehmen als stimmiges und harmonisches Gesamtkunstwerk zur Geltung.
Die Ästhetisierung im Beratungsprozess hat die Besonderheit, dass sie
sich der häufig zu hörenden Kritik, dass das ästhetische Bild
des Unternehmens nichts mit der Realität des Unternehmens zu tun hat, mit
dem geschickten Verweis auf ihre "Zukünftigkeit" entzieht. Die
ästhetischen Bilder bedienen die gleiche Managersehnsucht nach Unternehmen
als stimmige und harmonische Gesamtkunstwerke, ohne sich jedoch dem Vorwurf
einer Diskrepanz zwischen der eigenen Realität und diesem Bild auszusetzen.
Im Gegenteil: Die Diskrepanz zwischen der realen Dynamik, Vielfältigkeit
und Mehrdeutigkeit des Unternehmens und des harmonischen und schlüssigen
Gesamtbildes eines Masterplanes werden vielmehr Grund für einen Veränderungsprozess
angegeben.
Es handelt sich dabei um eine Idealisierung der Zukunft, bei gleichzeitiger
Schlechtmachung der Vergangenheit. Veränderungsprojekte, Change-Prozesse
und Reformen, so Luhmann, seien in dieser Form Defizienzbeschreibungen vor dem
Hintergrund der Annahme, dass man es besser machen könne. Die Vergangenheit
werde schlecht gemacht, damit die Zukunft besser sein kann. Die faktische Realität
wird mit contrafaktischen Idealen aufgepumpt, um die Hoffnung zu näheren,
dass sich die Organisation irgendwann einmal in die Richtung dieser Ideale bessern
lassen und alle Mitarbeiter vom "Guten, Wichtigen und Richtigen" überzeugt
sind. (vgl. Luhmann 1997: 292; Bardmann 1997: 53)
Diese Diskrepanz zwischen "Ist-Zustand" und "Soll-Zustand"
ist in den klassischen Beratungsprozessen ein zentraler Motor für den Veränderungsprozess.
Die Energie entsteht dadurch, dass die "Masterpläne", "Visionen"
und "Sollzustände" attraktiver, einfacher und einleuchtender
wirken als die als chaotisch wahrgenommene Realität. Es wird suggeriert,
dass Unternehmen durch den Beratungsprozess zu einer schlüssigeren, konsistenten
und letztlich rationaleren Funktionsweise kommen können, durch die letztlich
alle Mitarbeiter gewinnen würden. Die Energie für Veränderung
entsteht dadurch, dass Veränderungsprojekte in ihren guten Absichten nur
schwer zu wiederlegen sind, weil der "Härtetest ihrer Vorhaben"
noch aussteht. (Luhmann 1997: 289)
Aus meiner Sicht liegt in diesem Arbeiten mit Soll-Ist-Diskrepanzen die Ursache
für die komplexen Steuerungs- und Planungsvorstellungen, wie sie einen
Großteil der Beratungsprojekte dominieren. In dem Moment, in dem der Berater
mit ästhetisierten Zukunftsentwürfen arbeitet, muss er für sich
in Anspruch nehmen, dass er zwischen der Realität und den Zukunftsentwürfen
eine Kausalverbindung herstellen kann. Sonst würden die Soll-Zustände
als Hirngespinste ohne Wirkmächtigkeit dastehen. Berater müssen Unternehmen
deutlich machen, dass sie nicht nur Mängel erkennen können und bei
der Erarbeitung von Lösungen beitragen können, sie müssen auch
behaupten, dass sie über die Instrumente verfügen, die mangelhafte
Organisation und die entwickelte Idealvorstellung miteinander in Beziehung zu
setzen (vgl. Brunsson 1989: 224f).
Dieser Anspruch Gegenwartsbeschreibungen und Zukunftsentwürfe
miteinander in Verbindung zu setzen führt zu den "Vorstellungen von
geplantem Wandel" (vgl. Kimberly 1988: 165), "rationalistischen Sichtweisen
des Managements von Veränderung" (vgl. Faust et al. 1994: 76f) oder
zu "synoptischen Planungsphilosophien" (vgl. Schreyögg 1984:
134f). Dabei wird davon ausgegangen, dass im Beratungsprozess Probleme des Unternehmens
bei dem Ziel der Profitmaximierung identifiziert und daraus Strategien entwickelt
werden, mit der die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden kann. Die
Argumente für diese Strategien werden dann allen Mitarbeitern vermittelt
und im Unternehmen umgesetzt.
Im Ablauf solcher Planungs- und Beratungsprozesse wird
jedoch deutlich, wie sich die Idee oder die Strategie abnutzt, ihre Attraktivität
verliert. Je konkreter ein Masterplan in die Realität umgesetzt wird, desto
klarer wird dass dieses Konzept ähnliche Widersprüchlichkeiten birgt
wie alle anderen vorher bekannten Organisationskonzepte. Je stärker das
Soll-Ziel in einer Organisation umgesetzt wird, desto deutlicher werden die
Brüche in der Zielvorstellung. Je intensiver Leitvorstellungen von Lean
Management und Business Process Reengineering umgesetzt wird, desto stärker
werden deren blinde Flecke deutlich. Je stärker sich der Kaiser in der
Öffentlichkeit zeigt, so schon die Einsicht der Jugendliteratur, desto
deutlicher wird, dass er nackt ist.
Gegen dieses Brüchigwerden der Masterpläne
und Soll-Zustände setzen dann häufig Immunisierungstendenzen sowohl
der "Prozessherren" im Unternehmen als auch der beteiligten Berater
ein. Eine erste unbewusste Immunisierungsstrategie besteht darin Fehler und
Probleme im Beratungsprozess zu personalisieren. Das Nichterreichen des ästhetischen
Idealbildes wird auf das widerständige Verhalten von Mitarbeitern, die
Uneinsichtigkeit der mittleren Manager oder die Unfähigkeit eines bestimmten
Beraters zurückgeführt. Es wird eine Diskrepanz zwischen den logischen,
rationalem und schlüssigen Plan der zukünftigen Organisation und dem
irrationalen, emotionalen Verhalten der Mitarbeiter aufgebaut. Es existieren
in solcher Phase dann permanente Erklärungen wie "Wenn die Mitarbeiter
mitziehen würden...", "Wenn der Berater diesen Aspekt nicht übersehen
hätte..." oder "Wenn das Vorstandsmitglied seine Energie nicht
in andere Angelegenheiten gesteckt hätte...". Durch diese Zuweisung
von Problemen und Fehlern auf Personen wird das ästhetische, harmonische
Zielbild der Organisation aufrechterhalten, weil die Probleme außerhalb
des Systems (bei der Persönlichkeitsstruktur von Menschen) gesucht werden.
(vgl. Kieserling 1993: 22) Der Plan war gut, bloß leider waren die Menschen
noch nicht weit genug.
Die zweite unbewusste Immunisierungsstrategie besteht
darin, auf die Probleme im Beratungsprozess dadurch zu reagieren, dass eine
permanente Neudefinition des harmonischen, ästhetischen Zukunftsmodell
betrieben wird. In Zielanpassungsworkshops werden die bisherigen Erfahrungen
reflektiert und der Zielkatalog immer wieder neudefiniert. Es wird dabei nicht
die Vorstellung einer harmonischen, ästhetischen Organisation aufgegeben,
sondern sie wird lediglich in eine unbestimmte Zukunft verschoben. Es ist als
wenn der Berater suggeriert, dass das Bild, an dem er arbeitet, noch nicht fertig
ist, sondern immer noch angepasst werden muss.
Über die Identifizierung mit dem ästhetischen
Bild der Organisation wird der Berater blind für eigene Rationalitätslücken.
Die "Füllung", die sie für Rationalitätslücke
des Kunden vorgeschlagen haben, wird jetzt gegenüber Einwänden hochgehalten.
Es wird dabei ein eigenes ästhetisches Bild der Organisation geschaffen,
das dann mit aller Kraft verteidigt werden muss. Man sieht dann die Rationalitätslücken
in der Ausgangsorganisation, kann aber nicht mehr erkennen, welche Rationalitätslücken
sich in seiner eigenen Konzeption ausbilden.
4. Die Grenzen der Steuerbarkeit von Organisationen
In der Zwischenzeit kursieren in den Unternehmen eine Vielzahl von Anekdoten,
Geschichten und Witzen über Berater. Da werden die Berater als junge "Notebook-Ritter"
beschrieben, die zwar mehr als 47 Liebesstellungen kennen (beherrschen) würden,
aber keine einzige Frau. Es wird die Geschichte vom Arthur Anderson Consultant
verbreitet, der unter dem Einsatz neuster technischer Hilfsmittel die genaue
Größe einer Schafsherde errechnet, vom Hirten als Honorar ein Schaf
kassieren will und vor lauter Unkenntnis der Materie nicht ein Schaf, sondern
einen Hirtenhund einsteckt. Mitarbeiter mokieren sich über die "Schrankware",
die durch die Vielzahl von Beratungsfirmen produziert wird nutzlose Gutachten
auf Hochglanzpapier, die in den Aktenschränken der Firma versauern, ohne
in irgendeiner Form wirkmächtig zu werden.
Alle diese Anekdoten, Geschichten und Witze spielen auf die überzogenen
Steuerungsvorstellungen an, mit denen Expertenberater in Organisationen hereinkommen.
Sie nehmen jedoch aus meiner Sicht die Funktionalität der sich in einem
rationalistischen Paradigma bewegenden Berater nicht ernst genug. Sie orientieren
sich lediglich an den Versprechungen der Beratungsfirmen und nicht an den unausgesprochenen
Funktionen dieser Berater. Es gibt aus meiner Sicht eine Vielzahl von latenten
Funktionen, die die mit klassischen Expertenberatungsansätzen arbeitenden
Berater in Unternehmen erfüllen. Berater werden, so die Vermutung, für
vieles gebraucht, selten jedoch genau für das, was in ihren Lastenheften
steht.
Eine erste Funktion ist, dass durch an Masterplänen arbeitende Berater
"Paketlösungen" für die Organisation produziert werden.
Diese wirken gerade für das Top-Management angstreduzierend. Es wird den
Beteiligten suggeriert, dass sie zwar angesichts von Globalisierung, Digitalisierung
und Wertewandel in Bedrängnis geraten, es jedoch operationalisierbare Lösungen
gibt, mit denen sie diesen Herausforderungen begegnen können. Die Programme
zur Unternehmensverschlankung hatten genau eine solche Funktion. Es wurde den
Managern suggeriert, dass die Gefahr durch die japanische Konkurrenz zwar enorm
sei, es aber ein Programm gebe, mit denen man dieser Gefahr entgegentreten könnte.
Eine zweite Funktion ist, dass Masterpläne, Leitbilder handlungsmotivierend
wirken. Masterpläne, genaue Projektplanungen können uns zu Handeln
motivieren: Es wird ein "wir können es schaffen" in der Organisation
verbreitet. Detaillierte Zeitpläne, ausgearbeitete Penetrierungsstrategien
von neuen Märkten, Effizienzberechnung der zukünftigen Organisationsstruktur
vermitteln den Betroffenen das Gefühl, dass die entworfenen Pläne
einen hohen Realitätsgehalt haben und von der Organisation erreicht werden
können. Die ausgefeilten Strategiegutachten der Expertenberatungsfirmen
haben ihren Nutzen darin, dass sie dem Auftraggeber suggerieren, dass eine schlüssige
Alternative zur aktuellen Marktausrichtung existiert. Das kann ihn dazu motivieren,
etwas neues zu wagen.
Eine dritte Funktion ist, dass die von Beratern verfassten oder von Organisationsentwicklern
zusammen mit Mitarbeitern entwickelte Strategiepapiere, Einsparungsvorschläge
und Masterpläne dem Management als Legitimation dienen können. Das
Management ist in eine Vielzahl von Machtspielen eingebunden und radikale Einschnitte
würden die Machtverflechtungen durcheinander bringen. Über Beratungsfirmen
haben Manager die Möglichkeit Konzepte entwickeln zu lassen, die den Anschein
von "Distanziertheit", "Objektivität" und "Rationalität"
erfüllen und nicht sofort als Trumpfkarte in einem neuen Machtspiel zu
erkennen sind.
Eine vierte Funktion ist, dass sich Unternehmen bei der Diskussion zukünftiger
Strategien, Organisationsstrukturen oder Personalzusammensetzungen primär
erst einmal über ihre eigene Gegenwart verständigen. Die grundlegende
Diskussion über die Gegenwart an sich würde von Mitarbeitern leicht
als Zeitverschwendung abgelehnt werden. In der Form der Auseinandersetzung über
mögliche Zukünfte kann jedoch diese Gegenwart thematisiert werden,
ohne dass diese aber direkt angesprochen werden muss. Auch wenn die Strategiepapiere
und Marktpenetrierungskonzepte dann in den überfüllten Schubladen
verschwindet, dann hat es doch wenigstens eine Verständigung über
die Gegenwart gegeben. (vgl. Schnelle 2000)
Es ist aus meiner Sicht fraglich, ob das Management ohne weiteres auf diese
versteckten Funktionen der klassischen Organisationsberatung verzichten kann.
Eine soziologische Beratung muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie für
den versteckten Nutzen der klassischen Beratungsansätze funktionale Äquivalente
parat hält. Meine Vermutung ist, dass sie auf den Einsatz von ästhetischen
Unternehmensmodellen nicht völlig verzichten kann: Erstens mag es in der
Acquisephase notwendig sein, sich an den aktuell gehandelten Unternehmensmodellen
zu orientieren, um überhaupt an interessante Problembereiche der Organisation
herangelassen zu werden. Zweitens benötigt der Auftraggeber häufig
zum internen Marketing im Unternehmen einen schillernden Begriff, um sein Reorganisationsprojekt
bewilligt bekommen. Drittens ist es manchmal auch nötig, die Experimente
mit neuen Unternehmensstrukturen an einen aktuellen Managementdiskurs anzukoppeln,
um ihnen so einen gewissen "Drive" zu geben.
Wo liegt jetzt der Fehler, den die klassische Experten- und Prozessberatung
beim Einsatz dieser ästhetischen Managementbilder macht? Der Fehler wird
bei diesen Beratungsansätzen gemacht, wenn die Berater anfangen selbst
an die von ihnen produzierten ästhetischen Modelle für eine noch zweckrationalere
Organisation zu glauben und ihre eigenen Erfolgskriterien an eine Umsetzung
dieser Modelle knüpfen. Probleme, Akteure und Lösungen, so die grundlegende
Einsicht der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie, sind in der
Regel nur lose gekoppelt. Mit Sprüchen wie "Je planmäßiger
die Menschen vorgehen, um so wirksamer trifft sie der Zufall" oder "Planung
heißt bei uns den Zufall durch den Irrtum zu ersetzen" wird in Unternehmen
darauf aufmerksam gemacht, dass zwischen den Masterplänen, den Strategiekonzepten
und einer späteren Organisationswirklichkeit nur sehr lockere Verbindungen
bestehen (vgl. Neuberger 1990b: 77).
Hier wird jetzt das Thompson-Argument wiederholt. Ich
bin mir nicht sicher, ob es ein zuviel des Guten ist.
Die Vorstellungen von einer engen Kopplung zwischen Problemen
und Lösungen, zwischen Masterplanen und späterer Organisationswirklichkeit
basieren auf einer unzulässigen Generalisierung der nur begrenzt möglichen
Technisierung von Organisationsprozessen. James Thomson hat darauf aufmerksam
gemacht, dass es in Organisationen Versuche gibt im operativen, wertschöpfenden
Kern die Abläufe durch isolierte Kausalketten berechenbar, routinisierbar
und für Mitarbeiter einfach nachvollziehbar zu machen. Diese punktuelle
Technisierung ist jedoch nur möglich, wenn die Unsicherheiten von anderen
spezialisierten Einheiten bearbeitet werden. Sie kann deswegen nicht als generelles
Erfolgsrezept für Organisationen dienen.
Die Thesen von der "Unsteuerbarkeit" und "Planungsillusion"
zielen auf einen grundlegenden Gedanken ab: Organisationen passen sich permanent
an veränderte Umweltbedingungen an, aber (aus der Sicht der Steuerer) "leider"
nie so wie es die Unternehmensspitze oder die Berater gerne möchte. Der
zentrale Grund dafür, darauf hat zuerst Niklas Luhmann (1997: 283) aufmerksam
gemacht, ist, dass sich von Top-Managern oder Beratern nur die Strukturen der
Organisation, nie aber die unmittelbaren Operationen, die alltäglichen
Entscheidungen ändern lassen. Um sicher zu sein, dass die unmittelbaren
Operationen vor Ort, die alltäglichen Entscheidungen in ihrem Sinne sind,
müssten sie die Operationen und Entscheidungen schon selbst durchführen
aber das entspricht weder dem Rollenverständnis von Managern noch dem
von Beratern.
Diesem Charakter von "Unsteuerbarkeit" wird implizit auch von Expertenberatungsfirmen
und klassischen Organisationsentwicklern durch eine zentrale Verhaltensweise
Rechnung gezollt: die Bezahlung nach aufgewandter Zeit und nicht nach Erfolg.
Diese Vorgehensweise, die sich so auch bei Ärzten, Rechtsanwälten
oder Theologen finden lässt, hängt damit zusammen, dass sich die Unsteuerbarkeit
im Beratungsprozess für den Berater als "Technologiedefizit"
oder "Standardisierungsproblem" äußert. Eine Tätigkeit
ist so komplex, dass sie nicht in einzelne Komponenten zerlegt werden kann.
Es ist nicht möglich, einen Arbeitsgang aus einer festen Folge von Schritten
zu definieren (vgl. Wilensky 1972: 209).
Das Standardisierungsdefizit hat mehrere Konsequenzen für die Organisation
einer Tätigkeit. Eine erste Konsequenz ist, dass es nicht möglich
ist, den Erfolg einer Maßnahme eindeutig zu bestimmen und zu planen. Die
Unsicherheiten in einer Tätigkeit sind so hoch, dass jeder beteiligte Akteur
selbst bestimmen kann, was Erfolg bedeutet. Es werden deswegen in der Regel
bei diesen Tätigkeiten auch keine Erfolgshonorare bezahlt, sondern Stundenlöhne
oder Festsätze. Die Tätigkeiten von Mediziner, Juristen und Theologen
sind Beispiele dafür, wie aufgrund der Unsicherheit in beruflichen Tätigkeiten
erfolgsabhängige Honorare sich nicht durchsetzen konnten.
Eine zweite Konsequenz ist das Problem der Qualitätssicherung. Bei in
einzelne Komponenten zerlegbare Tätigkeiten ist es möglich, vorweg
Standards der Qualität zu definieren und am Produkt oder am Prozess zu
überprüfen, ob diese Standards eingehalten worden sind. Man braucht
sich lediglich den Produktionsprozess in einer Dosenfabrik anzusehen, um zu
sehen, welche Rolle definierte und überprüfbare Qualitätsstandards
z.B. in Form von ISO 9000ff-Normen spielen. Bei mit Unsicherheit belasteten
Tätigkeiten ist diese Form der formalisierten Qualitätssicherung nicht
möglich. Es lässt sich nicht eindeutig feststellen, ob eine Intervention
den Qualitätsstandards entspricht.
Eine dritte Konsequenz ist, dass die Tätigkeiten nicht ohne weiteres erlern-,
kopier- und automatisierbar sind. Die Tätigkeit kann nicht innerhalb von
kurzer Zeit den meisten Menschen beigebracht und auch nicht hochautomatisierten
Expertensystemen übertragen werden. Dies hat Auswirkung auf die Bezahlung
dieser Tätigkeit. Je schwieriger das Erlernen dieser Tätigkeit und
je geringer die Wahrscheinlichkeit, dass diese Tätigkeit Automaten übertragen
wird, desto höher ist in der Regel die Bezahlung. Die Tätigkeiten,
die stark durch Unsicherheit und Unbestimmbarkeit geprägt sind, wie zum
Beispiel in der Medizin, Juristerei, Wissenschaft aber auch im Management wurden
(was Medizin und Juristerei angeht jedenfalls lange Zeit) und werden hoch vergütet.
Meine These ist, dass die meisten Beratungsansätze die Auffassung von
der Unsteuerbarkeit von Organisationen und das Standardisierungsdefizit in ihre
Beratungsphilosophie aufgenommen haben, die konkrete Vorgehensweise in Beratungsprojekten
sich aber nach wie vor an Steuerungsvorstellungen und Planungsillusionen orientieren.
Zwar werden die brachialen Steuerungsphilosophien "Tue das und das, und
Du wirst das erreichen" in der Zwischenzeit durch komplexere Steuerungsphilosophien
ersetzt, aber nach wie vor wird davon ausgegangen das die durch Expertenwissen
oder durch konsensuale Abstimmungsmechanismen festgelegten Ziele erreicht werden
können.
5. Arbeit mit Widersprüchlichkeiten als Ansatzpunkt
eines soziologischen Beratungsverständnisses
Von Beratern unterstützte Reformprojekte setzen in der Regel an den manifesten,
sichtbaren und offensichtlichen Strukturen einer Organisation an. Es soll eine
neue Vertriebsstruktur aufgebaut werden, um ein neues Marktsegment aufzubauen.
Es soll eine neue "kommunikationsunterstützende Architektur"
des Unternehmens geschaffen werden oder neue Maschinenanordnung vorgenommen
werden. Die Rechtsstruktur einer Unternehmenseinheit soll geändert werden.
Die Personalstruktur soll geändert werden und beispielsweise zusätzliche
ausländische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingestellt werden. Die Abläufe
einer Organisation sollen neue konzipiert werden.
Das sich Veränderprojekte an solchen manifesten Strukturen orientierten
ist nachvollziehbar, weil die sichtbaren Strukturen in einer Organisation allgemein
bekannt und damit leichter erwähnbar und diskutierbar sind. (vgl. Kieserling
1993: 4) Schon in der Phase der Projektanbahnung gibt es eine verständliche
Neigung dazu, Veränderungsprojekte an den offensichtlichen Strukturen anzusetzen.
Das Top-Management braucht eine Vorstellung, wie viele Ressourcen durch das
Projekt gebunden werden. Die vom Projekt betroffenen Linienmanager möchten
wissen, was sich in ihrer Organisation ändern soll. Die Berater wollen
einen klar formulierten Auftrag haben, um ihre eigene Kostenkalkulation vornehmen
zu können und den Personaleinsatz zu planen. Ergebnis ist dann, dass sich
schon die Auftragformulierung an den offensichtlichen Strukturen orientiert.
Die Einseitigkeit der Orientierung an den sichtbaren Strukturen fällt
häufig erst dann auf, wenn die Veränderungsprojekte auf Widerstände,
Überraschungen, Störungen treffen. Dies ist beispielsweise der Fall,
wenn ein alle überzeugendes Vorhaben daran scheitert, dass das Machtgleichgewicht
zwischen einflussreichen Akteuren durcheinander gebracht zu werden droht. Oder
wenn eine Strukturreform, von der alle Beteiligten überzeugt sind, sich
nicht durchsetzt, weil sich in der Praxis zeigt, dass die Organisation nach
ganz anderen Regeln funktioniert. Oder es wird deutlich, dass eine neu ausgehandelte
Aufgabenverteilung nicht wirksam wird, weil es "heimliche Spielregeln"
der Organisation gibt, die diese neue Aufgabenverteilung verhindert.
In jeder Organisation sind verborgene Strukturen vorhanden. Sie sind den Organisationsmitgliedern
nur begrenzt bewusst und werden kaum thematisiert. Die verborgenen Strukturen
treten dabei in zweifacher Form auf.
Die folgende Abgrenzung finde ich unglücklich, weil zwei unterschiedliche
Aspekte unter dem Begriff Latenz zusammengefasst werden. Für klärende
Hinweise bin ich dankbar.
Die erste Form von latenten Strukturen besteht aus den ausgeblendeten Alternativen
in den Organisationen. Theoretisch gibt es in Organisationen immer mehrere Möglichkeiten,
um einen Produktionsprozess zu organisieren (oder auch verschiedene Produkte,
die produziert werden könnten). Diese nicht genutzten Alternativen werden
jedoch in der Organisation unsichtbar gemacht, weil ihre Präsenz den Produktionsprozess
verunsichern würde. Man wäre permanent damit konfrontiert, dass man
das Produkt ja auch ganz anders herstellen könnte. Der Gedanke, dass man
etwas ganz anders machen kann, trägt aber nicht gerade dazu bei, das was
man macht, mit großem Enthusiasmus zu tun.
Die zweite Form von latenten Strukturen besteht aus den unsichtbar wirkenden
Strukturen, die die manifesten Strukturen stützen, unterlaufen oder konterkarieren.
(vgl. ausführlich den Beitrag von Schnelle 2000) Es handelt sich beispielsweise
um Machtprozesse in Organisationen. Diese werden häufig nicht thematisiert,
weil deren Thematisierung den Einfluss eines Akteurs reduzieren kann. Es handelt
sich beispielsweise um die alltäglichen Regelabweichungen in der Organisation,
die sich schon deswegen ausbilden müssen, weil die formalisierten Regeln
nie so umfassend sein können, dass alle Fälle der Organisation vorausgedacht
werden können. Regelabweichungen wirken jedoch im verborgenen, weil sich
die "Abweichler" bei einer Offensichtlichmachung dieser Regeln Kritik
und Sanktionen aussetzen würden. Auch handelt es sich um professionelle
Denkstille, die sich in Organisationen ausbilden. Häufig ist es den Akteuren
wichtiger, was ihre Professionskollegen denken als dass, was der Vorgesetzte
als richtiges Verhalten betrachtet.
Das Arbeiten mit diesen Latenzen könnte sich als
das Spezifische eines soziologischen Beratungsverständnisses ausbilden.
Die (zugegebenermaßen durch eigene professionelle Engführungen geprägte)
Vermutung ist, dass andere wissenschaftliche Disziplinen wie die Betriebswirtschaftslehre,
die Ingenieurswissenschaften oder die Arbeitspsychologie zwar diese Latenzen
punktuell wahrnehmen, nicht jedoch über ein umfassendes theoretisches Gerüst
verfügen, um diese Latenzen in ein komplexes Organisationsverständnis
einzuordnen. Die Einordnung wäre jedoch nötig, um Latenzen in Unternehmen
zu erkennen und diese in Beratungsprozessen bearbeitbar zu machen.
Wie kann eine soziologische Beratung jetzt mit diesen
Latenzen umgehen? Am einfachsten ist noch die Feststellung, was eine soziologische
Beratung nicht kann. Eine soziologische Beratung kann nicht anstreben, alle
Latenzen in einer Organisation aufdecken zu wollen. Abgesehen davon, dass ein
solches aufklärerisches Unterfangen einem Don-Quichote-Projekt gleichkäme,
in dem im Laufe des Aufklärungsprozesses immer neue Windmühlen entstehen
würden, würde damit auch die Funktion von Latenzen sträflich
missachtet werden. Latenz ist in der Organisation abwesend, aber sie ist notwendig.
Sie schützt die Struktur, in dem sie abdunkelt, was wichtig ist, aber nicht
gesehen werden sollte. (vgl. Luhmann 1993a: 458f; siehe auch Kieserling 1996:
56; Groth 1999: 79)
Schon in der Diskussion über die lernende Organisation
ist herausgearbeitet worden, dass eine Organisation, die alle Handlungsbezüge
als Lernakte gestalten würde und die eigene Latenzen sichtbar macht, eine
strukturfreie Organisation (und damit keine Organisation) wäre. Jederzeitiges
Lernen würde zu einer Auflösung des Systems führen. Die Organisation
müsste letztlich auf alles und jedes reagieren. Jeder Impuls würde
einen neuen Anstoß für Systemmodifikationen implizieren. (Schreyögg/Noss
1995: 179)
Man kann die für Außenstehende überraschende
Ignoranz mancher Manager gegenüber der eigenen Organisation als Ergebnis
der Schutzfunktion von Latenz interpretieren. Die Auftraggeber der Berater sind
häufig gar nicht an einem richtigen und vollständigen Verstehen ihrer
Organisation interessiert, sondern an dem Treffen von "passenden"
Entscheidungen. (vgl. Körner 1997: 3) Ein Manager, der versuchen würde
alle Probleme, seiner Mitarbeiter, den Markt, die technischen Abläufe komplett
zu verstehen, entspräche kaum dem aktuell gehandelten Leitbilder des "Machers",
sondern würde wohl eher als utopisch veranlagter "Organisationsversteher"
diskriminiert werden.
André Kieserling (vgl. 1993: 1) hat in Anschluss
an Luhmann herausgearbeitet, dass die Perspektive des zweiten Blicks einen Luxus
darstellt, denn man nicht unbedingt braucht. Ohne den ersten Blick wäre
man blind der Manager würden nicht entscheiden, die Mitarbeiter nicht
produzieren, der Außendienst würde nicht verkaufen. Ob der zweite
Blick sinnvoll ist, hängt von den Umständen ab: Den Sehende, so Kieserling,
kann es verwirren, wenn er die eigene Perspektive auf den Raum reflektieren
muss. Denn die Spezifik der Perspektive beruht ja gerade darauf, dass sie sehen
lässt, ohne als Perspektive jemals sichtbar zu werden.
Für ein soziologisches Beratungsverständnis
ist es deswegen notwendig mit einer doppelten Perspektive an eine Organisation
heranzugehen. Der erste Blick ist darauf gerichtet zu verstehen, welche Latenzen
in einer Organisation vorhanden sind. Hier würde von einer Fremdbeobachtungsperspektive
geschaut werden, welche Aspekte in der Organisation nicht (oder nur sehr eingeschränkt)
wahrgenommen werden. Es geht ganz im Sinne der systemischen Beratung darum zu
beobachten, welche dominanten Muster die Organisation zur Konstruktion ihrer
Realität aufgebaut hat, mit welchen Differenzen primär operiert wird,
was sie mit Hilfe der Differenz zu sehen bekommt und was nicht, welche spezifischen
Blindheiten sie ausbildet und welche Konsequenzen sich daraus für sie ergeben.
(vgl. Wimmer 1992: 75)
Der zweite Blick wäre darauf gerichtet zu schauen,
welche Funktion die latenten Strukturen in einer Organisation haben. Hier müsste
von Beratern herausgearbeitet werden, ob die latenten Struktur so stark ausgeprägt
sind, dass ein Arbeiten an ihnen die gesamte Organisation verunsichern würde.
Die Aussage über die Funktion der latenten Strukturen gibt dem Berater
Aufschluss, wie stark er diese latenten Strukturen ins Gespräch bringen
kann.
6. Das Arbeiten an Latenzen im Prozess der Variation,
Selektion und Retention
In der dominierenden Philosophie sowohl der Experten-
als auch der Prozessberatung dominiert eine ganz eigene Vorstellung von einer
ganzheitlichen Beratungsphilosophie. In einem Veränderungsprozess sollten
nicht nach dem Motto "Mitarbeiter sind jetzt fertigmotiviert, jetzt kommt
die Entlohnung dran" nur Einzelaspekte der Organisation bearbeitet werden.
Vielmehr, so die Vorstellung, sollte ein möglichst integriertes Ansetzen
an verschiedenen Stellschrauben stattfinden. Nur so könnte verhindert werden,
dass es Inseln der Veränderung gibt, die dann in der Gesamtorganisation
untergehen.
Dieses ganzheitliche Verständnis von Beratung äußert
sich an zwei Punkten: Erstens setzen Berater häufig in Reorganisationsprojekten
an verschiedenen Strukturmerkmalen gleichzeitig an. Es werden gleichzeitig die
Hierarchien abgeflacht und die Routinen in der Ablauforganisation verändert.
Begleitet wird dies alles durch Schulungsmaßnahmen, in denen die Ängste
vor den neuen Aufgaben genommen und die Mitarbeiter zu neuen Verhaltensweisen
ermutigt werden sollen. Oder es finden in Krisenzeiten gleichzeitig Personalentlassungen,
eine Ausgliederung ganzer Unternehmensteile und die Einführung neuer Informations-
und Kommunikationstechnologien statt. Zweitens gibt es im Sinne dieser Ganzheitlichkeit
die Tendenz von Beratern, in Beratungsprojekten gleichzeitig die Findung neuer
Handlungsmöglichkeiten, die Auswahl aus den verschiedenen Handlungsalternativen
und die Übersetzung einer favorisierten Alternative in neue Handlungsroutinen
zu begleiten. Man versteht sich als Experte für alle Schritte eines Beratungsprojektes
von der Problemdiagnose bis zur Evaluation der neuen Handlungsmuster.
Dieser ganzheitliche Anspruch in Bezug auf die Struktur
und den Prozess entsteht vermutlich aus der Orientierung an einer ästhetischen
Vorstellung von zukünftigen Organisationen. Wenn man ein schönes Bild
einer zukünftigen Organisation schafft, dann scheint es notwendig an den
verschiedenen Stellhebeln einer Organisation anzusetzen, um nicht nur Bruchwerk
zu produzieren. Es scheint einzuleuchten, dass eine Überführung einer
Organisation in einen anderen Zustand nicht funktionieren kann, wenn lediglich
an einem Aspekt herumgedoktert wird.
Dieses ganzheitliche Beratungsverständnis ist aus
einer systemtheoretischen Perspektive in Frage gestellt worden. Luhmann (1995g:
140) spricht davon, dass es "vielleicht nur ein einziges unausweichliches
Organisationsgesetz gibt": Es kann in Organisation nicht alles gleichzeitig
verändert werden! Erstens wäre es nicht möglich, dass allen Strukturmerkmalen
einer Organisation gleichzeitig verändert werden, weil sich dann die Organisation
sich gar nicht mehr als eigene Organisation verstehen würde. Zweitens würden
sich Akteure übernehmen, wenn sie gleichzeitig sich für die Variationen,
Selektionen und Retentionen in einer Organisation verantwortlich fühlten.
Im folgenden soll anhand der drei Ebenen einer Organisationsveränderung
Variation, Selektion und Retention herausgearbeitet werden, wie eine an der
Rationalitätslücke orientiertes Beratungsverständnis konkret
aussehen könnte.
In der Expertenberatung wird die Variation darüber
eingeführt, dass die Organisation mit einem fremden Organisationsentwurf
konfrontiert wird. Diese Vorgehensweise hat ihren Reiz, weil bei der Forderung
nach Selbstorganisation häufig übersehen wird, dass Organisationen
nur solche Organisationsstrukturen sich vorstellen können, die in dem Gedächtnis
der Organisation angelegt sind. Man organisiert sich in Selbstorganisation,
so wie man es aus den "Zeiten der Fremdorganisation" kennt. Die Expertenberatung
hat den Vorteil, dass sie diese Gefahr vermeidet, indem sie Modelle aus ganz
anderen organisatorischen Zusammenhängen einführt.
Eine soziologische Beratung würde dagegen die Variation
eher aus den "Latenzen" der Organisation schöpfen. Die Überlegung
dabei ist, dass in diesen Latenzen, der Zugang zu anderen (vielleicht auch erfolgreicheren?)
Organisationsstrukturen liegt. In der soziologisch orientierten Beratung sind
in letzter Zeit verschiedene Überlegungen angestellt werden, wie mit Fragen
nach dem "nicht Vorhandenen" in Organisationen das Ausgeblendete an
die Oberfläche zu bringen und für Mitarbeiter besprechbar zu machen
ist. (vgl. Beispielsweise Metaplan 1997; Baecker 1997; Fontin 1998)
Mit Fragen nach dem "Nicht" konterkarieren
Organisationsgestalter die Tendenz in und von Organisationen, die Beherrschbarkeit
dadurch zu sichern, dass paradoxe, widersprüchliche Anforderungen in der
Tendenz ausgeblendet werden. Mit den Fragen nach dem "Nicht" können
die Seiten eines Dilemmas ans Licht gezerrt werden, die bisher von der Organisation
nicht wahrgenommen werden (siehe für erste Überlegungen Kühl
2000: 196). Diese Suche nach den "Nicht-igkeiten" hat einige tiefgreifende
Konsequenzen für die Art und Weise wie Veränderungsprojekte organisiert
werden.
Eine erste Konsequenz betrifft die Umgangsweise mit Konflikten
in Organisationen. Die klassische Vorstellung der Expertenberatung ist es gewesen,
dass Konflikte dadurch entstehen, dass sich eine Gruppe von Betroffenen gegen
die eigenen rationalen Vorschläge zur Wehr setzt und diese durch Überzeugungsarbeit,
Information und wenn alles nicht hilft durch Druck zur Einsicht in die Notwendigkeit
gebracht werden muss. Die klassische Vorstellung in der Organisationsentwicklung
war, dass es darum geht, mit Offenheit, Vertrauen, Ehrlichkeit, Leidens-, Lern-
und Veränderungsbereitschaft eine Lösung zu finden, mit der alle Beteiligten
sich anfreunden können. Von der Perspektive einer soziologischen Organisationsberatung
sind Konflikte jedoch nicht primär Defekte im System oder in der Person,
sondern sie entstehen daraus, dass die in jeder Organisation angelegten Widersprüchlichkeiten,
Paradoxien und Dilemmata in an Personen gebundenen Konfliktkonstellationen zum
Vorschein kommen. In einem Veränderungsprozess auftretende Konflikte können
deswegen, so die Idee Luhmanns (1997: 287f), dazu dienen, dass die Organisation
ein komplexeres Bild von sich und ihrer Umwelt produziert.
Eine zweite Konsequenz ist die Art und Weise, mit der
das Problem in der Organisation definiert und die Ausgangssituation diagnostiziert
wird. In der Herangehensweise von klassischen Expertenberatern und Organisationsentwicklern
wird in einer der Diagnosephase davon ausgegangen, dass die Organisationswirklichkeit
entweder durch partizipative Verfahren oder durch den scharfen Blick des unabhängigen
Experten richtig diagnostiziert werden kann. Die objektiv existierende Wirklichkeit
soll durch Verschleierungen und Vernebelungen hindurch erkennbar gemacht werden,
um mit den eigentlich interessierenden Interventionen an einer möglichst
präzisen Problembeschreibung ansetzen zu können (vgl. Neuberger 1990:
150). Eine soziologische Beratung würde an dieser Stelle nicht nur bestreiten,
dass eine solche objektiv bestimmbare Wirklichkeit gibt, sondern vielmehr der
Diagnosephase eine ganz andere Funktion zuweisen. In der Problemdefinitions-
und Diagnosephase geht es darum, die Widersprüchlichkeiten, Paradoxien,
Interessensgegensätze sich entfalten zu lassen, um damit in der Anfangsphase
eines Projektes eine möglichst hohe Komplexität erzeugen zu können.
Es spricht dabei einiges dafür, dass diese Phase der Problemdefinition
und Diagnose unter Variationsgesichtspunkten bereits eine zentrale Intervention
darstellt und in sinnvoller Weise stark ausgedehnt werden sollte.
Eine dritte Konsequenz ist eine andere Umgangsform mit
dem "Widerstand" in Veränderungsprojekten. Der Begriff Widerstand
suggeriert, dass sich Mitarbeiter gegen rationale Entscheidungen des Managements,
gegen die durchdachten Interventionen der Berater oder gegen eine vermeintlich
konsensual getragene Entscheidungen einer Gruppe auflehnen. Mit dem Wort Widerstand
wird dabei von interessierten Akteuren, die Art und Weise wie Mitarbeiter die
Umwelt der Organisation und die eigene Organisation wahrnehmen sollen, eingeengt.
(vgl. Weick 1995: 3) Es wird suggeriert, dass es die eine richtige Sichtweise
(die Sicht der Berater, die Entscheidung des Managements, die konsensuale Position
der Gruppe) gibt, wie die Umwelt zu begreifen ist. Dieses Einengen von Perspektiven
mag hilfreich sein, wenn es darum geht eine stromlinienförmige Organisation
entsprechend der Sichtweise von Management oder Beratern aufzubauen. Wenn es
darum geht, eine Vielzahl von Perspektiven aufzubauen, ist das vermeintlich
widerständige Verhalten immer ein Versuch, eine zusätzliche Perspektive
einzubringen oder aufrechtzuerhalten und bietet für den Berater vielfältiges
Material, mit dem gearbeitet werden kann.
Eine vierte Konsequenz betrifft die Zurechnung von Problemen
und Fehlern auf Personen. Es ist nicht zu bestreiten, dass das Verhalten von
Mitarbeitern aus der Perspektive des Managements häufig zu wünschen
übrig lässt (und umgekehrt auch das Verhalten des Managements nicht
immer den Ansprüchen der Mitarbeiter gerecht wird). Häufig gibt es
auch fehlerhafte Abweichungen von den Organisationsprogrammen durch Mitglieder,
auf die sich das Management gezwungen sieht zu reagieren. Die Zurechnung von
Fehlern auf Organisationsmitglieder und das Arbeiten an dem Verhalten der Mitarbeiter
ist für eine soziologische Organisationsberatung jedoch uninteressant,
weil sie die für einen Berater interessanten Diskussionen über Organisationsstrukturen
abschneidet. Die Fehler werden bei der Personalisierung nicht als Ergebnis des
Programms, der organisatorischen Routine, sondern lediglich als Fehler außerhalb
des Systems (nämlich des "Menschen") verstanden und damit in
die Obhut der Verhaltenstrainer, der Personalabteilung oder im Extremfall der
betriebspsychiatrischen Dienst überwiesen. Überspitzt ausgedrückt
werden sie damit nicht mehr als Teil des Organisationssystems, sondern als Problem
der Person begriffen.
Wie werden jetzt aus den im Beratungsprozess entstehenden
Variationen die Selektionen getroffen? In der klassischen Vorstellung von Beratung
wurde davon ausgegangen, dass in einem Beratungsprozess eine möglichst
rationale Auswahl zwischen verschiedenen Handlungsalternativen stattfindet.
Um die beste Entscheidung zwischen den Handlungsalternativen zu treffen, sollten
die Folgen der verschiedenen Strategien analysiert und gegeneinander abgewogen
werden. Sowohl in der Expertenberatung als auch der Organisationsentwicklung
wird die erarbeitete Organisationsstruktur mit großem Werbeaufwand intern
vermarktet. Die Mitarbeiter werden in großen Konferenzen zusammengeholt,
um über die neue Struktur informiert zu werden. Die neue Struktur wird
in Mitarbeiterzeitungen dargestellt und es werden eigene PR-Aktionen gestartet,
um für die neuen Maßnahmen zu werben.
Eine an der Rationalitätslücke ansetzende soziologische
Beratung trennt sich von der Vorstellung, dass durch einen Beratungsprozess
eine optimale Lösung für eine Organisation gefunden werden kann. Wie
sollten auch angesichts der widersprüchlichen Ziele in einer Organisation
die optimalen Lösungen für eine Situation gefunden werden? Wie könnte
bei der begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit alle Folgen der verschiedenen
erwogenen Alternativen evaluiert werden? Wie sollte man die überhaupt die
Hoffnung haben, die optimale Entscheidung zu treffen, wenn man noch nicht einmal
alle möglichen Alternativen übersehen kann?
Eine Implikation der Rationalitätslücke in
Organisationen ist es, dass ein Urteil wie falsch und richtig nicht existiert.
In der mehrdeutigen Welt der Organisation, darauf hat unter anderem Weick (1985:
352) aufmerksam gemacht, sind Entscheidungen lediglich angemessen oder unangemessen.
Welche Strategie sich letztendlich dann durchsetzt ist das Ergebnis von organisatorischen
Eigendynamiken, zufälligen Marktentwicklungen und zufälliger Interessenskonstellationen.
Ziel eines Beratungsprozesses sollte es deswegen nicht
sein, lediglich einen erfolgsversprechenden Zug in das Schienennetz zu setzen,
sondern mehrere Züge parallel loszuschicken und zu schauen, wie sich die
Züge in dem Netz halten. Dieses Denken widerspricht erst einmal der Vorstellung,
dass eine Organisation im Beratungsprozess stromlinienförmig ausgerichtet
werden muss. Die verschiedenen Züge können sich kreuzen, sich aneinander
andocken, aber sie können auch um ein Gleis kämpfen oder gar kollidieren.
Organisationen sind jedoch so gebaut, dass sie diese
verschiedenen auch widersprüchlichen Strategien gleichzeitig zulassen.
Diese Situation, die man negativ ausgedrückt als fehlende Fähigkeit
zur Strömlinienförmigkeit, Harmonie und Zweckrationalität bezeichnen
kann, lässt sich hier dafür nutzen, um verschiedene, widersprüchliche
Strategien gleichzeitig zu beginnen (vgl. March 1990b: 200). Es sind organisatorische
Fettpolster (slack) vorhanden, die es ermöglichen, dass unterschiedliche
Strategien mit Ressourcen ausgestattet werden können. Die Prozesse in Organisationen
sind häufig nur locker miteinander gekoppelt, so dass auch widersprüchliches
Handeln möglich wird. Und die Organisation ist zu symbolischen Handeln
fähig und dies ermöglicht die Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten
nicht nach außen dringen zu lassen.
In der Phase der Selektion ist es Aufgabe der Berater,
die verschiedenen entstehenden, auch widersprüchlichen Konzepte und Ideen
gegen das Immunsystem der Organisation zu schützen. Die Resistenz gegen
neue Organisationsstrukturen, der bei einer starken PR für eine Maßnahme
zu beobachten ist, soll möglichst vermieden werden. Eine effektive Methode
ist die Darstellung der Veränderungen als "Experiment", "Erprobung"
oder "Versuch". Darüber wird der Eindruck erweckt, dass durch
die Reorganisationen nichts festgelegt, sondern alles noch offen und reversible
sei, je nachdem zu welchen Ergebnissen man in diesen Prozessen kommt.
Reformexperimente, das hat Luhmann für Universitäten
und Verwaltungen gezeigt, dienen dazu, dem Reformern entgegen zu kommen und
zugleich den Betrieb gegen die Effekte abzuschirmen. (vgl. Corsi 1995: 83; Luhmann
1997: 290) Die Reformen sind dann keine radikale Umstellung der Gesamtorganisation,
sondern vielmehr ein langsames Einsickern in die Gesamtorganisation - ein langsames
Normalisieren der Reformen.
Welche Rolle sollten Berater bei der Frage spielen, welche
der verschiedenen Erprobungen, Experimente, Reformen sich durchsetzt? Welche
Rolle bleibt den Beratern bei der Frage der Retention? Meine Vermutung ist,
dass die Luft im Beratungsprozess schon draußen ist, wenn die Phase der
Retention erreicht wird. Der Berater ist verbraucht und hat nur noch begrenzt
die Autorität, diese Phase der Retention zu begleiten. Vielleicht lässt
man ihn noch einen kleinen Reflektions-Workshop über die Erprobungen und
Experimente machen. Den Prozess, wie stark Erprobungen, Experimente und Reformen
in die gesamtorganisatorischen Strukturen einsickern, beherrschen jedoch vermutlich
andere.
6. Weitere Perspektiven für einen soziologischen
Beratungsansatz
Auf welche Weise die Rationalitätslücken als
Ansatzpunkt für eine soziologische Beratung genutzt werden kann, konnte
an dieser Stelle nur angedeutet werden. Wenn sich die "Rationalitätslücke"
(und ihre Kinder die Mehrdeutigkeit, die Widersprüchlichkeit und die Paradoxie)
als Quellcode für eine soziologische Beratung eignen sollte, dann müsste
man von ihr in der Lage sein, konsistente Antworten auf die zur Zeit dominierenden
Fragen der Organisationsberatung zu liefern.
Passt sich Begriff der Rationalitätslücke in
ein Organisationsverständnis ein, das es ermöglicht Interventionen
in Organisationen von Interventionen in Familien, Gruppen oder Funktionssystemen
abzugrenzen? Wie gut gelingt es dabei den Organisationsbegriff und Interventionsbegriff
aufeinander abzustimmen? Kann man das Konzept der Rationalitätslücke
in ein schlüssiges Verständnis von Organisationsstrukturen integrieren?
Wie wird Macht in das Konzept der Rationalitätslücken integriert und
welche Verbindung gibt es zum Strukturkonzept?
Die Fragen sind nur vorläufig. Vielleicht sind ja auch ganz andere Diskussionsrichtungen
im Beratungsdiskurs zur Zeit relevant.
7. Literatur
Baecker, Dirk (1997b): Das Handwerk des Unternehmers.
Überlegungen zur Unternehmerausbildung. Witten: unveröff. Ms.
Bardmann, Theodor M. (1994): Wenn aus Arbeit
Abfall wird. Aufbau und Abbau organisatoirscher Realitäten. Frankfurt
a.M.: Suhrkamp.
Bardmann, Theodor M. (1997): Überall
Schmarotzer oder: Vom endlosen Treiben der Parasiten. In: GDI-Impuls, H.
2/1997, S. 52-65.
Barnard, Chester I. (1938): The Functions
of the Executive. Cambridge, MA.
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