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Stefanie Krug
Integrationsschwierigkeiten, Integrationsmöglichkeiten
– Qualitative Forschungsansätze für die Praxis.
1. Anwendungsorientierte Forschung im hochschulfreien
Kontext
Der empirische Hintergrund meines Beitrags ist ein vom Bundesministerium
für Arbeit und Sozialordnung (BMA) gefördertes Verbundprojekt. In
diesem Rahmen sollen neue Tätigkeitsfelder und Beschäftigungsnischen
für eine Zielgruppe erschlossen werden, die aufgrund einer spezifischen
Sinnesbehinderung (die häufig mit multivariablen Einschränkungen einher
geht) beschäftigungspolitisch als schwer vermittelbar gilt. Insgesamt besteht
der Verbund aus drei Non-Profit-Organisationen, die unter unterschiedlichen
Voraussetzungen dasselbe Ziel verfolgen. Das von mir geleitete Teilprojekt ist
angesiedelt bei einer großen Stiftung zur Ausbildung und Förderung
von blinden und sehbehinderten Menschen, die alle Sozialisationsinstanzen von
der Frühförderung bis zur Berufsausbildung und Eingliederung in den
Arbeitsmarkt umfasst.
Im Zuge der Etablierung von nationalen und transnationalen,
aus Mitteln der Länder, des Bundes und der Europäischen Union bereitgestellten
Förderprogrammen ist hier – an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher
Forschung und gesellschaftlicher, genauer: bildungs- und beschäftigungspolitischer
Praxis – ein neues Marktsegment entstanden, in dem hochschulfreie Institute
für angewandte Arbeitsmarkt-, Berufs- und Sozialforschung an Bedeutung
gewonnen haben und zunehmend erfolgreich mit Universitäten und anderen
Hochschularten um Forschungsaufträge und die wissenschaftliche Begleitung
von Modellversuchen konkurrieren.1
Charakteristisch für solche Projekte ist dreierlei:
- dass sie in den hauseigenen, im Zuge der Projektförderung
gewachsenen FuE-Abteilungen von Bildungseinrichtungen jedweder Couleur (wirtschafts-,
gewerkschafts-, parteinahe, konfessionelle, freie Träger etc.) konzipiert
werden;
- dass die Richtlinien der Programme die Förderung
an die Erzielung beschäftigungspolitischer Effekte (Bekämpfung von
Jugendarbeitslosigkeit, Chancengleichheit von Frauen und Männern, Beschäftigungsförderung
von Personen mit besonderen Integrationsproblemen etc.) und die Verbesserung
der Wettbewerbsfähigkeit von Betrieben – insbesondere kleiner und mittlerer
Unternehmen (KMU) gegenüber Großbetrieben und Konzernen (Global
Players) – binden;
- dass sie grundlegende Forschungsfragen und konkrete Entwicklungsaufgaben
bereits im Ansatz miteinander verbinden und wissenschaftliche Erkenntnisproduktion
unmittelbar problemlösungs- und handlungsorientiert für die Umsetzung
und Weiterentwicklung von praxisrelevanten Bildungskonzepten und Beschäftigungsinitiativen
in Dienst nehmen.2
Damit ist mit wenigen Pflöcken ein Feld abgesteckt,
bei dem es sich weder um originäre Grundlagenforschung über einen
in der Arbeitswelt angesiedelten Gegenstand handelt, noch um im engeren Sinne
auf Profitmaximierung oder Prozessoptimierung ausgerichtete Auftragsforschung/Organisationsberatung,
die direkt im Anwendungskontext von Unternehmen oder Öffentlichem Dienst
angesiedelt ist. Für Projekte in diesem Bereich werden – anders als bei
universitärer Grundlagenforschung – zwar Zielvorgaben teilweise von außen
gesetzt; aber im Gegensatz zur typischen Auftragsforschung bewegen sich diese
Ziele in einem weiteren gesellschaftlichen Kontext und überschreiten grundsätzlich
den Horizont eines einzelnen Unternehmens bzw. einer einzelnen Organisation.
Ich betone diesen ‚dritten Weg’, weil er in der gegenwärtigen Fachdiskussion
über Arbeitskulturen unterbelichtet ist. Die Dichotomisierung von Wissenschaft
und Wirtschaft, die Forschung und Anwendung aus Prinzip getrennt sieht, greift
in diesem Kontext so wenig wie die Dichotomisierung von Wissenschaft und Praxis,
was mir für das Vorzeichen dieser Tagung, den Dialog zwischen Wissenschaftlern
und "Praktikern" zu befördern, bedeutsam erscheint.
Und so möchte ich an dieser Stelle festhalten: Ein
Diskurs, der lediglich von außen kommende Grundlagenforschung zu interner
Unternehmens-/Organisationsberatung ins Verhältnis setzt, übersieht,
dass es nicht nur Verschiebungen zwischen universitärer Wissensproduktion
einerseits und gesellschaftlicher Anwendung andererseits gegeben hat; vielmehr
kommt hier ein drittes Referenzsystem oder eine dritte Instanz ins Spiel, nämlich
ein außerhalb der Hochschulen und außerhalb der beforschten Unternehmen
und Organisationen liegender Forschungskontext mit einer eigenen Logik und eigenen
Gesetzen.
2. Anforderungen der Praxis an die Forschung oder das
Ringen um die Wertschöpfung der Methoden
Zu Beginn des dreiphasigen Projektes (1. Erhebungs-, 2.
Konzeptions-, 3. Umsetzungs- und Auswertungsphase) wurden rund 300 Frauen und
Männer befragt, die einen behindertenspezifischen Ausbildungsgang absolviert
und anschließend versucht haben, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Parallel dazu lief eine repräsentative Unternehmensbefragung (900 privatwirtschaftlich
geführte Betriebe plus 100 öffentliche Verwaltungen), die Aufschluss
über die Aufnahmekapazität und –bereitschaft von Arbeitgebern im Segment
sogenannter Einfacharbeitsplätze geben sollte. Diese wurde von einem renommierten
außeruniversitären Sozialforschungsinstitut durchgeführt, das
auf quantifizierende Erhebungen spezialisiert und mit der wissenschaftlichen
Begleitung des gesamten Projektes beauftragt ist. Auf diese Weise sollten im
Vorfeld wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse darüber gewonnen werden,
welche Faktoren die Eingliederung in die Arbeitswelt (aus Sicht der Zielgruppe
und der Arbeitgeber) erschweren oder blockieren und – mit Blick auf die Umsetzung
vor allem: welche sie erleichtern und begünstigen.
Der Forschungsplan sah als Erhebungsinstrument für
die Zielgruppenbefragung vollstandardisierte Interviews vor, die von den Projektpartnern
telefonisch durchgeführt und hinsichtlich quantifizierbarer Ergebnisse
ausgewertet werden sollten. Das Sample war mit einer Bruttofallzahl von je circa
250 Personen pro Ausbildungseinrichtung so groß angelegt, dass die auf
wenigstens 50 Prozent geschätzte Nettoausschöpfung eine statistische
Auswertung erlauben würde.
Mit dieser Vorgehensweise können – bezogen auf die
einzelnen Teilaspekte des Erkenntnisinteresses wie Motivation und Bildungsbereitschaft,
Arbeitszufriedenheit und finanzielle Sicherung, Mobilität und Berufswegplanung
etc. – statistisch fassbare Größen ermittelt, korreliert und zu richtungsweisenden
Hinweisen über hemmende und fördernde Faktoren verdichtet werden.
Unterbelichtet bleiben bei dieser Art von Datenanalyse Impulse und Argumentationsketten
der Befragten, die jenseits des vorgesehenen Analyserasters liegen, sowie qualitative
Aspekte, die sich einer objektivierbaren Faktorenanalyse entziehen.
Die Tatsache, dass die Zielgruppenbefragung nicht von einer
anonymen außenstehenden Instanz durchgeführt wurde, sondern von der
Institution, die die persönliche und berufliche Entwicklung der betreffenden
Personen maßgeblich geprägt hat, lässt eine rein standardisierte
Befragung ohne jeden Spielraum für persönliche Rückkoppelungen
meines Erachtens äußerst fragwürdig erscheinen – erst recht,
nachdem sich einzelne Erhebungsfragen des aus der Arbeitslosenforschung vorgegebenen
Rasters auf durchaus existentielle Dimensionen beziehen ("Ich sehe keinen
Sinn mehr in meinem Leben" – trifft zu/trifft nicht zu).3 Aber auch jenseits
dieses forschungsethischen Aspekts kamen schon bald erhebliche Zweifel daran
auf, ob mit rein quantifizierenden Methoden die integrationsschädlichen/-förderlichen
Momente erfasst und begriffen werden können, weil diese mutmaßlich
sehr eng mit lebensweltlichen Erfahrungen und weichen Faktoren zusammenhängen.
Ursprünglich stellte der Projektentwurf ausschließlich
auf die Sammlung "objektiver Daten" und "harter Fakten"
ab. Nach teilweise recht schwierigen Auseinandersetzungen über den im Antrag
zugrunde gelegten Wissenschaftsbegriff ist es mittlerweile gelungen, das Forschungsdesign
ein Stück weit für ethnografische Methoden und qualitative Analysen
zu öffnen. Eine begrenzte Zahl von biografischen Fallstudien, die federführend
für alle Projektpartner von Stuttgart aus vorgenommen werden, soll die
Ergebnisse der Hauptstudie unter folgenden Gesichtspunkten ausdifferenzieren
und anreichern:
- Gibt es bei vergleichbarer Behinderung unterschiedliche
Umgangsweisen und Bewältigungsstrategien (Frustrationstoleranz, Integrationsfähigkeit,
Sozialverhalten etc.)? Wenn ja, woran liegt das?
- Was für eine Konstruktion von Behinderung ist der
Zielgruppe von den einzelnen Sozialisationsinstanzen (Familie, Schule, Ausbildung,
Beruf etc.) hinsichtlich ihres Selbstwertgefühls und Leistungsvermögens
vermittelt worden? Welche Konsequenzen hat dies für die berufliche Eingliederung?
- Welche persönlichen Lebensumstände, Bildungsmaßnahmen
und sonstigen Unterstützungsangebote (behindertenspezifische Sozialisation,
Berufswahlentscheidung, Eingliederungshilfen etc.) werden als förderlich
erlebt?
- Wie und in welchen Zusammenhängen werden berufsrelevante
Schlüsselqualifikationen (Kommunikations- und Teamfähigkeit etc.)
und extrafunktionale Kompetenzen (Flexibilität, Eigeninitiative etc.)
erworben? Durch welche Bildungsangebote kann dieser Bereich gestärkt
werden?
- Wo siedeln die Betroffenen selbst die Gründe für
Erfolg oder Scheitern bei der beruflichen Eingliederung an? (bei sich selbst,
der Ausbildungseinrichtung, den Arbeitgebern?)
- Wie nehmen die Personen sich und ihre Fähigkeiten
wahr und wie stellen sie sich dar? (Selbsteinschätzung / Selbstmarketing)
In der Form von ExpertInneninterviews (Kostenträger,
Arbeitsverwaltung, Kammern etc.) wurde ebenfalls einer Öffnung des Forschungsdesigns
für ethnografische Methoden zugestimmt und damit ein weiteres Element qualitativer
Sozialforschung eingebaut: In leitfadengestützten Interviews sollen die
ExpertInnen mit den Ergebnissen der Unternehmens- und der Zielgruppenbefragung
konfrontiert und um Stellungnahmen gebeten werden, die ihrerseits wiederum in
den Forschungsprozess zurückfließen und ausgewertet werden.
Qualitative Ansätze schienen teilweise auch bei der
wissenschaftlichen Begleitung durch das externe Forschungsinstitut anvisiert
zu sein: Im Forschungsplan ist vorgesehen, im Anschluss an die repräsentative
Unternehmensbefragung 10 bis 20 qualitative Arbeitsplatzanalysen in Betrieben
vorzunehmen, die beim Screening Panelbereitschaft erklärt hatten. Wenngleich
mir dieser Ansatz in der Hand von Statistikern einigermaßen überraschend
erschien, ging ich nach Vorgesprächen zum Verfahren davon aus, dass der
Part ethnografischer Unternehmensforschung damit abgedeckt sein würde,
und meldete lediglich mein Interesse daran an, bei den Betriebserkundungen teilzunehmen.
Inzwischen hat das Institut den Arbeitsauftrag extern an
eine Gesellschaft vergeben, die sich auf behindertenspezifische Arbeitsplatzanalysen
spezialisiert und – aus öffentlichen Fördermitteln im Rahmen eines
Projektes – ein Instrument zur Eingliederung von Menschen mit Behinderungen
auf dem Arbeitsmarkt entwickelt hat. Die Auseinandersetzung mit dieser Methode
führte mich zu der Erkenntnis, dass Begriffe wie komplexe Fallstudien und
qualitative Ansätze in der anwendungsorientierten Forschung teilweise adaptiert
und entfremdet worden sind. Zwar enthalten sie mit teilnehmender Beobachtung
und Interviews einige Bestandteile, die einem kulturwissenschaftlichen Verständnis
von ethnografischen Methoden entsprechen; im Kern handelt es sich jedoch um
ein vollstandardisiertes Assessmentverfahren, das auf der Grundlage eines feststehenden
Itempools einen Profilvergleich zwischen dem speziellen Anforderungsprofil des
Arbeitsplatzes und dem individuellen Fähigkeitsprofil der arbeitsplatzsuchenden
Person vornimmt.
Maßgabe für den Projekterfolg ist letztendlich
die unter dem Strich erzielte Vermittlungsquote. Aus diesem Grund – man könnte
sagen: wegen der Neigung zu einem objektivistischen oder positivistischen Wissenschaftsverständnis
nicht nur der Disziplinen, die den ‚neuen Markt’ anwendungsorientierter Bildungs-,
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung dominieren, sondern auch der Finanziers und
‚Abnehmer’ (Ministerien, Arbeitsverwaltung, Wirtschaft), die sich im Endeffekt
vor allem für Quoten interessieren, kaum aber dafür, wie diese zustande
kommen – haben qualitative Forschungsansätze eine schwere Beweislast zu
erbringen. Anders als quantifizierende Messverfahren stehen sie unter Verdacht,
eher den Charakter von illustrierendem Beiwerk und subjektiv gefärbten
(= verzerrten) Erfahrungsberichten als von wissenschaftlichen (= objektivierbaren)
Ergebnissen aufzuweisen. Dennoch gibt es Anzeichen, die auf wachsende Akzeptanz
hindeuten: Der Stuttgarter Ergänzungsantrag ist – freilich bescheiden dimensioniert,
da nur bedingt vom Forschungsplan abgewichen und nicht die ganze Projektskizze
in Frage gestellt werden konnte – vom BMA anstandslos genehmigt worden; zudem
haben qualitative Ansätze das Interesse der Medien – als nicht unwesentlichen
Erfolgsindikator – auf ihrer Seite.
Schützenhilfe gibt es auch von anderer Seite. Dieter
Blaschke vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
(IAB) der Bundesanstalt für Arbeit meldet Zweifel an am etablierten Instrumentarium
der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bzw. dessen Eignung, verwertbare Einsichten
zu gewinnen. Er vertritt die These, "dass wir nicht an zu wenigen oder
unzureichenden statistischen Verfahren, sondern an einem Überfluss an wenig
aussagefähigen Daten leiden." Oft seien die verfügbaren Daten
Nebenprodukte des Verwaltungshandelns, die zuerst als Tätigkeitsnachweis
und aus Gründen der Wirtschaftlichkeit genützt würden. Dabei
täusche der Datenüberfluss über den Mangel an wirklich brauchbaren
Daten hinweg.
Blaschke kritisiert außerdem, dass die in großen
Mengen erhobenen Daten oft nur die ohnehin bekannten Sozialfiguren reproduzieren,
indem sie beispielsweise die Schwierigkeiten gering Qualifizierter, Behinderter
oder Langzeitarbeitsloser statistisch untermauern – was wiederum die Stigmatisierung
befestigt und Personalverantwortliche in ihrer skeptisch-ablehnenden Haltung
bestätigt. Im Falle unseres Projekts könnte zum Beispiel die Information,
dass die meisten Arbeitgeber keine Blinden und Sehbehinderten einstellen, dazu
führen, dass dies auf potenzielle Kooperationsbetriebe abschreckend wirkt
– obwohl der Entscheidung gegen die Zielgruppe keine Erfahrung, sondern neben
möglichen Vorurteilen vor allem Unkenntnis (etwa über die Einsatzmöglichkeiten
Blinder und Sehbehinderter, staatliche Fördermittel oder den Aufwand einer
behindertengerechten Arbeitsplatzgestaltung) zugrunde liegt. Blaschke plädiert
deshalb dafür, bei anwendungsorientierter Forschung im Interesse der jeweiligen
Zielgruppe selektiv mit positiven Beispielen oder ‚Models of good practice’
zu arbeiten.4
Bleibt festzuhalten: Auf den ersten Blick sehen sich Grundlagenforschung
und anwendungsorientierte Forschung zum Verwechseln ähnlich. Tatsächlich
trennen sich die Wege schon bei der Formulierung des (im einen Fall ergebnisoffenen
und im anderen Fall auf Handlungsempfehlungen fokussierten) Erkenntnisinteresses
und noch deutlicher bei der Darlegung von Ergebnissen. Während Grundlagenforschung
darauf ausgerichtet ist, sich durch distanzwahrende gesellschafts- und sozialkritische
Analysen auszuweisen, deren Auftrag bei der Offenlegung von komplexen Zusammenhängen
und Wirkungsmechanismen endet, muss sich anwendungsorientierte Forschung per
Definition der Frage nach der konstruktiven Umsetzbarkeit von Ergebnissen
stellen und die negativen Folgen der Rezeption einer kritischen Verbleibs- und
Wirkungsforschung einkalkulieren.
3. Qualitative Ansätze als Element der internen
Organisationsentwicklung
Um das Projektziel "Erschließung von neuen Arbeitsplätzen"
zu erreichen, drängte sich schon bald der Gedanke auf, die Leitfrage nach
für die berufliche Eingliederung förderlichen bzw. hinderlichen Faktoren
nicht nur auf die Arbeitswelt (Unternehmensbefragung, Arbeitsplatzanalysen,
ExpertInneninterviews) und die ehemaligen RehabilitandInnen (Zielgruppenbefragung,
Fallstudien), sondern auch auf die Rolle der Ausbildungseinrichtung zu beziehen.
Dabei lag die These zugrunde, dass es zur Problemlösung nicht ausreichen
würde, dem bestehenden Angebot neue Qualifizierungsmaßnahmen für
neue Arbeitsfelder hinzuzufügen, sondern sich darüber hinaus unter
Umständen auch ein gewisser Veränderungsbedarf hinsichtlich des bestehenden
Ausbildungsangebots ergibt.
Die Überlegungen gingen beispielsweise in folgende
Richtungen: Passen die Ausbildungsinhalte in den bestehenden Ausbildungszweigen
noch mit den Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt zusammen? Sind die Jugendlichen
nach der überbetrieblichen Ausbildung in einem blinden- und sehbehindertenspezifischen
Umfeld ausreichend für den Wechsel in den öffentlichen Arbeitsmarkt
gewappnet? Haben sie – abgesehen von fachlichem Know-how – genügend gelernt,
sich zu Menschen ohne Behinderung in Beziehung zu setzen? Daraus ergab sich
ein weiterer, im vordefinierten Forschungsauftrag nicht enthaltener Ansatzpunkt
für qualitative Ansätze und ethnografische Methoden, nämlich
die Zugehörigkeit des Projektes zur Stiftung für teilnehmende Beobachtung
und die Exploration gängiger Vorstellungen und Erfahrungen im sozialen
Kontext der Ausbildungseinrichtung zu nutzen. Die von mir forcierte Suchrichtung
umfasste
- eine gründliche Orientierung über bestehende
Ausbildungsgänge und –verläufe,
- die Informationsaufnahme über die üblichen
Vermittlungswege und Erfahrungen bei der Eingliederung von AbsolventInnen
in Betriebe,
- Hintergrundgespräche mit dem Ausbildungs- und Betreuungspersonal,
- die Einbindung in hausinterne Besprechungen, Gremien
und Arbeitskreise,
- unterschiedliche Formen der Selbsterfahrung (Mobilitätstraining
unter verschiedenartigen Simulationsbrillen, Blindenführtechniken, Handhabung
von behindertenspezifischen Arbeits- und Hilfsmitteln etc.).
Dass mir für meine Recherchen Zugang zum Regelbetrieb
und zu internen Informationsquellen gewährt wurde, wäre so mit Sicherheit
nicht möglich gewesen, wenn nicht zwei Bedingungen erfüllt gewesen
wären: Erstens war für die Leitung ein konkreter Nutzen meiner Bestrebungen
erkennbar, und zweitens konnte sie sich eines verantwortlichen Umgangs mit den
gewonnenen Erkenntnissen sicher sein. Ein verantwortlicher Umgang heißt
– und hier komme auf meinen zweiten Punkt zurück –: dass das gesammelte
Material nicht in Form einer problematisierenden Defizitanalyse, sondern unter
dem Gesichtspunkt konstruktiver Verbesserungsvorschläge verarbeitet wird.
Fortan ging es neben dem explizit definierten Gegenstand, neue Beschäftigungsmöglichkeiten
zu erschließen, implizit auch darum, die Projektergebnisse als Beitrag
zur Qualitätsentwicklung und Anschlussfähigkeit der Ausbildungseinrichtung
fruchtbar zu machen.
Ich will dies abschließend mit einem Beispiel verdeutlichen:
Bei den standardisierten Telefoninterviews wurde den aktuell erwerbstätigen
AbsolventInnen die Frage gestellt: "Wie viel von den Kenntnissen und Fertigkeiten,
die Sie in der Ausbildung erworben haben, können Sie bei Ihrer derzeitigen
Tätigkeit verwerten?" Als Antwortmöglichkeit konnte gewählt
werden zwischen "sehr viel", "viel", "einiges",
"wenig" oder "sehr wenig bzw. gar nichts". Anstatt es beim
Ankreuzen der entsprechenden Antwort zu belassen, wurde in Stuttgart mit der
Anschlussfrage nach dem Warum nachgesetzt und um eine kurze Erläuterung
in Form eines Beispiels gebeten (falls dieser Impuls nicht schon ohne besondere
Aufforderung vorhanden war).
Die entsprechenden Schilderungen sind naturgemäß
nicht in die statistische Auswertung eingeflossen, sondern – bei markanten Äußerungen
in wörtlicher Rede, bei längeren Sequenzen paraphrasiert – in Begleitnotizen
und Gedächtnisprotokollen zu den Interviews festgehalten, systematisiert
und ausgewertet worden. Im nächsten Schritt wurden sie zusammen mit einigen
Thesen in den zuständigen Gremien der Stiftung vorgestellt und diskutiert.
Anschließend wurde gemeinsam beraten, wie die Rückmeldungen zur Verwertbarkeit
von Ausbildungsinhalten aus Sicht der Einrichtung zu bewerten sind und welche
Punkte aufgegriffen und weiter bearbeitet werden sollten. Die Ergebnisse waren
den betreffenden Personen allesamt nicht neu und inhaltlich offenbar nur wenig
überraschend. Überraschend war vielmehr, dass sich hier mit Hilfe
der Zwischenstellung des Projektes eine Möglichkeit und ein Anstoß
bot, die altbekannten neuralgischen Punkte nochmals neu ins Visier zu nehmen,
Position abzuklären und Handlungsbedarf zu bestimmen.
Die Bereitschaft, ethnografische Methoden zuzulassen, hängt
nach meiner Beobachtung stark von der Art des jeweils betriebenen Qualitätsmanagements
ab; ich wage die These, dass nur in einem institutionellen Rahmen, in dem abgeflachte
Hierarchien und ein kooperativer Führungsstil vorherrschen und mit prozess-
und personenorientierten Formen der Leistungsverbesserung korrespondieren, mit
Rückhalt und Aufgeschlossenheit gegenüber qualitativer Sozialforschung
zu rechnen ist.
Anmerkungen:
1 Vgl. Sloane, Peter F.: Berufspädagogik und Wirtschaftspädagogik
im Spiegel der Forschung: Forschungsberichte des DGfE-Kongresses 1998. Opladen
1999. BIBB (Hg.): Modellversuche in der beruflichen Bildung. Bonn 2000.
2 Vgl. zu den Förderrichtlinien
etwa: Land Baden-Württemberg / Europäische Union – Europäischer
Sozialfonds: Gemeinsamer Leitfaden des Sozialministeriums, des Wirtschaftsministeriums,
des Kultusministeriums, des Ministeriums Ländlicher Raum und des Wissenschaftsministeriums
für die Förderung aus dem Europäischen Sozialfonds – Ziel 3 –
in der Förderperiode 2000 – 2006.
3 Letztlich wurde diese und einige
weitere Fragen dieser Art aus dem Pool zur Verfügung stehender Erhebungsfragen
herausgenommen, da das Stuttgarter Projekt deren Verwendung ablehnte.
4 Blaschke, Dieter: Problemhintergrund der Verbleibs- und Wirkungsforschung
bei Behinderten und bei anderen Zielgruppen der Arbeitsmarktpolitik. S. 131
– 143. In: Niehaus, Mathilde / Montada, Leo (Hg.): Behinderte auf dem Arbeitsmarkt.
Wege aus dem Abseits. Frankfurt/Main; New York 1997.
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