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Andreas Wittel
Produktivkraft Kultur
und warum ethnographisches Wissen in der neuen Ökonomie trotzdem nicht
der allerletzte Schrei ist
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"Gradualism, the idea that all change must be smooth, slow and steady, was never read from the rocks. It represented a common cultural bias, in part a response of nineteenth
century liberalism to a world in revolution. But it continues to color our supposedly objective reading of life's history...The history of life, as I read it, is a series of stable states, punctuated at rare intervals by major events that occur with great rapidity and help to establish the next stable era."
Stephen J. Gould
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Mein Beitrag hat fünf Teile. Im ersten möchte ich einige Bemerkungen
zur neuen Ökonomie machen. Im zweiten Teil steht das historische Verhältnis
von Kultur und Ökonomie im Vordergrund. These ist hier, wie mit dem Titel
‘Produktivkraft Kultur’ bereits angedeutet, daß dieses Verhältnis
in den letzten 150 Jahren eine fundamentale Transformation erfahren hat. Im
Zuge der Herausbildung der neuen Ökonomie, so mein Argument, kommt es zu
einer immer stärkeren Verflechtung der beiden Felder Kultur und Ökonomie.
Die neue Ökonomie ist eine zutiefst kulturalisierte Ökonomie, und
die "neue" Kultur ist eine durch und durch ökonomische Kultur,
eine Kultur, die sich von ihren humanistischen Wurzen weitgehend losgelöst
hat. Im dritten Teil wird anhand einer Gegenüberstellung mit Bourdieu’s
Konzept von ‘kulturellem Kapital’ spezifiziert, was genau mit der Formulierung
‘Produktivkraft Kultur’ gemeint ist. Im vierten Teil werden beispielhaft einige
Felder vorgestellt, die illustrieren, dass kulturwissenschaftliches Wissen im
Feld der Wirtschaft immer mehr man Bedeutung gewinnt. Im fünften Teil schließlich,
leicht paradox, kommen einige Vermutungen, warum ethnographisches Wissen und
eine Kulturwissenschaft verstanden als Gesellschaftskritik in der neuen Ökonomie
trotzdem nicht der letzte Schrei ist. Die etwas saloppe Formulierung ‘allerletzter
Schrei’ ist natürlich eine Anspielung auf den Modeaspekt von Managementtheorien.
1. Die neue Ökonomie
Die neue Ökonomie ist zunächst einmal nur eine Geschichte, eine Erzählung,
eine Repräsentation, ein Diskurs. Ebenso wie die Geschichte namens Postmoderne
und die Geschichte namens Globalisierung formiert sich die Geschichte der neuen
Ökonomie zu einem mächtigen und machtvollen Diskurs mit nachhaltigen
Wirkungen und Folgewirkungen. Es wäre sicherlich ein interessantes Unterfangen,
die Genealogie dieser Geschichte nachzuzeichnen. Das ist allerdings nicht das
Thema dieses Beitrags. An dieser Stelle soll genügen, daß die Geschichte
der neuen Ökonomie quer durch verschiedene gesellschaftliche Felder erzählt
wird (Thrift 2000). Sie wird erzählt von Politikern, Akademikern (von Wirtschaftswissenschaftlern
ebenso wie von Sozial- und Kulturwissenschaftlern), von Künstlern und Intellektuellen,
von den Medien und vor allem von den Praktikern in der Industrie, von Managementgurus
und Unternehmensberatern.
Die Geschichte der neuen Ökonomie ist nicht bzw. nicht nur die Geschichte
der dot.coms, des e-commerce oder einiger industrieller Sektoren. Vielmehr geht
es hier um eine fundamentale Transformation der gesamten Wirtschaft. Es gibt
schon jetzt viele Versionen dieser Geschichte der neuen Ökonomie. Die meisten
dieser Versionen haben einen gemeinsamen Nenner. Sie basieren auf der zumeist
impliziten These, daß sich Ökonomie zunehmend in Kultur auflöst,
in Arbeits- und Firmenkulturen, in Branding, Marketing und PR, in den immateriellen
Vermögenswerten, in Kommunikation, Information, in Wissen und intelektuelles
Eigentum, in Symbolen, Zeichen und Codes, in user experience, in Netzwerken
von menschlichen und nichtmenschlichen Beziehungen, in sozialem, kulturellem
und humanem Kapital (Drucker 1993, Castells 2000, Downes/Mui 1998, Dyson 1998,
Gilder 2000, Kelly 1998, Leadbeater 1999, Shapiro/Varian 1998.
Viele dieser Befunde sind in sozialwissenschaftlicher Hinsicht problematisch.
In der Tendenz zeichnen sie ein eher positives Bild der neuen Ökonomie.
Manche dieser Befunde sind gar naiv utopistisch; etwa wenn davon ausgegangen
wird, dass IuK-Technologien demokratieförderlich wirken. Ausserdem bleiben
Begriffe wie Kultur und Kommunikation in der Regel undefiniert und recht schwammig.
Schliesslich müssen sie sich den Vorwurf des Kulturalismus (Kaschuba 1995)
gefallen lassen, das heisst einen Diskurs zu forcieren, bei dem soziale Gegensätze
und soziale Konflikte unter der Decke Kultur verschwinden.
Dennoch denke ich, dass die implizite These dieser Befunde – die Auflösung
von Ökonomie in Kultur – ernst genommen werden muss. Da ich mich nun selbst
dem Kulturalismus Vorwurf aussetze, möchte ich mich Fredric Jameson (1991:
5) anschliessen, der zu Beginn seiner Analyse zum "postmodernism"
schreibt: "Yet this is the point at which I must remind the reader of the
obvious; namely, that this whole global, yet American, postmodern culture is
the internal and superstructural expression of a whole new wave of American
military and economic domination throughout the world: in this sense, as throughout
class history, the underside of culture is blood, torture, death and terror."
Um dem Kulturalismus Vorwurf zu entkommen, wäre es notwendig, die Thesen
zur neuen Ökonomie in einen Zusammenhang mit der Forschung zur politischen
Ökonomie zu bringen. Allerdings geht es mir im folgenden weder um Klassenanalyse
noch um Gesellschaftskritik, sondern um einen Versuch, die historische Flugbahn
von Kultur in Bezug auf Ökonomie nachzuzeichnen und die neuen Qualitäten
dieses Verhältnisses zu beschreiben.
Im folgenden möchte ich eine Version der neuen Ökonomie vorstellen,
die ich für die plausibelste halte und die auf stabilen empirischen Füssen
steht: die dreibändige Analyse von Manuel Castells zum Informationszeitalter.
Ich teile seine Ansicht, daß wir in der Tat einer fundamentalen Transformation
von Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft beiwohnen, einer Umgestaltung, die in
engem Zusammenhang mit den Entwicklungen der Informations- und Kommunikationstechnologien
steht. Daß wir in einer der von dem Paläantologen und Evolutionstheoretiker
Gould (1980) beschriebenen seltenen Perioden sind, die durch intensive, heftige,
schnelle und fundamentale Transformationen charakterisiert sind. Castells’ Analyse
ist besonders überzeugend, weil besonders vorsichtig. Er ist einer der
wenigen, der nicht in Versuchung gerät, eine Prognose abzugeben. Er vermeidet
futuristische Aussagen und begnügt sich mit einer soliden Diagnose der
Veränderungen in den letzten dreissig Jahren.
Informations- und Kommunikationstechnologien markieren nach Castells die dritte
industrielle Revolution. Was diese Revolution charakterisiert ist weniger der
zentrale Stellenwert von Wissen und Information – Information und Wissen waren
in allen industriellen Revolutionen von enormer Bedeutung – sondern die Tatsache,
daß Wissen und Informationen einerseits und technologische Wissensgenerierung
und Informationsprozesse zusammenfinden und in sogennanten "feeback loops"
oder Rückkopplungen permant Innovationen erzeugen. Durch die Anwendung
von Informationstechnologien entstehen neue Applikationen und neue Software.
Allein in den letzten beiden Jahrzehnten sind IuK-Technologien durch drei verschiedene
Stadien gegangen, von Automatisierung über Gebrauchsanwendung zur Rekonfigurierung
der Anwendungen. Während in den beiden ersten Phasen ein "learning
by using" praktiziert wurde, machen sich die User in der dritten Phase
durch ein "learning by doing" mit IuK-Technologien vertraut. Inzwischen
sind Informationstechnologien nicht nur Werkzeuge, die benutzt, sondern Prozesse,
die entwickelt werden. "User and doers may become the same" (2000:
31).
Die dritte industrielle Revolution, so Castells, führt zur Formierung
einer neuen Ökonomie. Diese neue Ökonomie hat sich in ihren ersten
Ansätzen bereits im letzten Viertel des 20sten Jahrhunderts herausgebildet.
Die neue Ökonomie unterscheidet sich in ihren grundlegenden Merkmalen in
dreierlei Hinsicht von ihren Vorgängerinnen: sie ist informationell, die
ist global und sie ist vernetzt. Sie ist informationell, weil die Produktivität
und Wettbewerbsfähigkeit aller wirtschaftlichen Einheiten bzw wirtschaftlichen
Akteure fundamental davon abhängt, in welchem Ausmaß sie wissensbasierte
Informationen generieren, weiterentwickeln und anwenden können. Wissen
und Information hat, wie bereits erwähnt, in jeder wirtschaftlichen Entwicklungsphase
eine immens wichtige Rolle gespielt. Neu an der jetzigen Entwicklung ist vielmehr,
daß Information an sich zu einem Produkt wird. Die Produkte der neuen
IuK-Technologien sind entweder Informationen verarbeitendeAnwendungen oder Informationsverarbeitung
an sich. Karin Knorr Cetina (2000) spricht in diesem Zusammenhang von der zunehmenden
Bedeutung von immateriellen Objekten gegenüber materiellen Objekten.
Der Wandel vom Industrialismus zum Informationalismus is kein historisches
Äquivalent zum Übergang von landwirtschaftliche zu industriellen Aktivitäten
und schließlich zum Bereichn der Dienstleistungen. Im Unterschied zu früheren
Transformationen des kapitalistischen Wirtschaftssystems zeichnet sich die neue
Ökonomie nicht durch eine Verlagerung der Aktivitäten aus. Neu ist
vielmehr, daß alle Aktivitäten, also Landwirtschaft, industrielle
Produktion und der Dienstleistungsbereich informationalisiert werden, daß
sie also nur auf der Grundlage von Informationsverarbeitung existieren, daß
sie ihre Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit vor allem mittels
Informations- und Kommunikationstechnologien erzielen.
Das zweite fundamentale Merkmal der neuen Ökonomie ist ihre Globalität.
Unter Globalität versteht Castells die Fähigkeit der Wirtschaft, auf
einer weltweiten Basis in ‘real time’ (Echtzeit) als organisatorische Einheit
operieren zu können. Nicht alles in der neuen Ökonomie ist global.
Vielmehr ist die Mehrzahl der Firmen und Arbeitskräfte nach wie vor lokal
und regional, und sie werden auch lokal und regional bleiben. Global ist lediglich
der Kern der neuen Ökonomie, die zentralen und treibenden Kräfte.
Das Schicksal der lokalen und regionalen Firmen beruht allerdings in einem permanent
steigenden Ausmaß auf der Leistungsfähigkeit des globalen Kerns.
Diese globale Kerngruppe setzt sich vor allem zusammen aus Finanzmärkten,
internationalem Handel, transnationaler Produktion und zu einem gewissen Ausmaß,
(Natur)Wissenschaft und Technologie. Finanzmärkte etwa sind inzwischen
weltweit und in einem hohen Ausmaß voneinander abhängig. Dank der
IuK-Technologien wird Kapital um ersten Mal in der Geschichte in integrierten
Finanzmärkten rund um die Uhr und in Echtzeit über den Erdball verschoben.
Die globalen Finanzflüsse sind folglich dramatisch angestiegen, hinsichtlich
ihres Volumens, ihrer Interdependenz, ihrer Komplexität und in ihrer Unberechenbarkeit.
Nach Castells werden die Kapitalflüsse zunehmend unabhängig gegenüber
den faktischen Leistungen von regionalen und nationalen Wirtschaften. Eher umgekehrt,
das Verhalten der Kapitalflüsse prägt weitgehend die Position von
Ökonomien. Immer mehr wird Kapital mittels anderem (bereits vorhandenem)
Kapital produziert. Dies führt dazu, daß Wertgewinne zunehmend in
den Kapitalmärkten verucht werden. In diesem Sinn sind die globalen Kapitalmäkte
das Rückgrad der neuen Ökonomie. Kurz, die globale neue Ökonomie
integriert nicht alle Staaten und Wirtschaften, nicht alle Firmen und nicht
alle Menschen, aber alle sind direkt oder indirekt von ihr betroffen. Die globale
Ökonomie durch eine fundamentale Assymmetrie zwischen denjenigen Wirtschaften
(Menschen), die integriert und vernetzt sind und von der neuen Ökonomie
profitieren und denjenigen, die ausgeschlossen aber von den Effekten betroffen
sind.
Die dritte grundlegende – und für mein Argument vielleicht wichtigste
– Eigenschaft der neuen Ökonomie ist ihre Existenz in Form eines Netzwerks.
Netzwerke, so Castells, sind die quintessentielle Form der neuen Ökonomie.
Die neue Ökonomie ist vernetzt, weil Produktivität und Wettbewerb
unter den neuen historischen Bedingungen vor allem über das Netzwerk generiert
und im Netz ausgespielt werden. Castells spricht in diesem Zusammenhang von
einer spezifischen Kultur der neuen Ökonomie, er versteht unter Kultur
jedoch nicht ein nationales Wert- oder Glaubenssystem, sondern plädiert
dafür, Kultur in ihrer Einbettung in Institutionen und Organisationen zu
untersuchen. Er spricht von einer neuen organisationalen Logik, die eng verknüpft
ist dem technologischen Wandel. "It is the convergence and interaction between
a new technological paradigm and a new organizational logic that constitutes
the historical foundation of the informational economy." (164) Diese neue organisationale
Logik ist das Netzwerk. Und das vernetzte Unternehmen materialisiert die Kultur
der informationalen und globalen Ökonomie.
Seit der ökonomischen Krise in den 70er Jahren und dem Ende der fordistischen
Massenproduktion sind eine ganze Reihe von organisatorischen Restrukturierungen
entwickelt und erprobt worden. Als Stichworte genannt seien hier flexible Produktion,
just in time production, neue Managementmethoden, Gruppenarbeit, Unternehmenskultur,
strategische Allianzen, Wissensmanagement und lebenslanges Lernen, um nur einige
Tendenzen anzufuehren. All diese unterschiedlichen Modelle haben eines gemein:
Sie sind Teil einer generellen Transformation von vertikalen zu horizontalen
Unternehmen. Unternehmen entwickeln sich zu Netzwerken. Die wichtigste Handlungseinheit
ist nicht mehr die Gesamtorganisation, sondern projektbezogene Figurationen,
die im Netzwerk agieren. Dieser Wandel vom vertikalen zum horizontalen Unternehmen
ist nur möglich durch die Entwicklung von IuK-Technologien. Castells verweist
auf ‘Cisco Systems’ als möglicherweise archetypisches Modell des vernetzten
Unternehmens. Cisco Systems, eine Firma in der Internet-Industrie, hat innerhalb
von zehn Jahren einen Marktwert von $220 Billionen Dollar erzielt. Zwischen
1995 und 1999 ist der Wert von Cisco Aktien über 2000 Prozent angestiegen.
Cisco hat die Netzwerklogik in allen Bereichen angewandt. Alle Geschäftsbeziehungen,
seien es die zu Kunden, Lieferanten, Partnern und Beschäftigten, sind über
das Internet organisiert und die meisten Interaktionen sind automatisiert und
laufen über Software. Im Jahr 1999 wurden 83 Prozent aller Aufträge
über die Website abgewickelt. In der Tat, die Website ist das operative
Zentrum von Cisco Systems. All diese eben erwähnten organisatorischen Transformationen
erfordern in erster Linie einen mentalen Wandel und nicht einen Wandel der Maschinerie.
Es geht hier um den Wandel von sozialen und kulturellen Systemen und das größte
Hindernis, das der Transformation von vertikalen zu horizontalen Strukturen
im Weg steht, ist die Rigidität von traditionellen Organisationskulturen.
Die Potentiale der vernetzten Unternehmen gehen laut Castells nahtlos einher
mit den Eigenschaften der informationalen Ökonomie: Jene Unternehmen sind
in Zukunft erfolgreich, die Wissen generieren und Informationen effizient verarbeiten.
"Globalization and informationalisation seem to be strukturally related
to networking and flexibility." (209)
Soweit Castells. Andere Autoren, die über die neue Ökonomie schreiben,
gehen noch weiter. So attestiert etwa Kevin Kelly, daß die neue Ökonomie
neuen ökonomischen Regel gehorcht. Und Jeremy Rifkin (2000a) prognostiziert
das Ende der Markt-Ökonomie, gekennzeichnet durch Besitz und durch den
Austausch zwischen Käufern und Verkäufern. Anstelle von Besitztum
sei die neue Ökonomie vor allem durch Zugang zu Netzwerken charakterisiert.
Käufer und Verkäufer würden abgelöst durch Anbieter und
Kunden. Ich möchte mich an dieser Stelle jedoch nicht in den Details der
Debatten zur neuen Ökonomie verlieren. Die kurze Zusammenfassung von Castells
Analyse soll lediglich den Weg eben für die folgende Argumentation.
2. Kultur und Ökonomie in der historischen Flugbahn
(Kultur)Industrien produzieren und zirkulieren Bedeutung. Mehr noch: Sie produzieren
eine globale und hegemoniale Kultur, eine Kultur die uns alle im Griff hat (Frank
1997). Mein Interesse an dem Verhältnis von Kultur und Ökonomie wurde
geweckt, als ich im Februar 2000 während meiner Feldforschung in New York
mit einem ungewöhnlichen Titelblatt eines Magazins konfrontiert wurde.
Der ‘Silicon Alley Reporter’, ein einflußreiches new economy Magazin,
das über die neue Medienindustrie in Manhattan berichtet, listete in einer
Sonderausgabe im Februar 2000 die hundert erfolgreichsten Unternehmer- und Unternehmerinnen
in New York’s Silicon Alley auf. Das Magazin hat viele der Top 100 des Silicon
Alley zu einem Fotoshooting versammelt. Dieses Foto ist das Titelbild der Sonderausgabe.
Die vier erfolgreichsten Vertreter des Silicon Alley sind in der Mitte der vorderen
Reihe. Sie sind, auch für Nichteingeweihte, leicht als die vier Stars zu
erkennen. Sie tragen die Kostüme der Beatles, die Kostüme der Beatles
auf der berühmten Sergeant Pepper Schallplatte.
{Foto}
Es ist unnötig zu erwähnen: Die Beatles sind Helden, Stars, Ideole,
kulturelle Ikonen. Die Beatles sind eine der erfolgreichsten und berühmtesten
Band in der Geschichte der Pop-Musik. Sie haben die Träume und Hoffungen
einer ganzen Generation definiert. Wenn nun die vier erfolgreichsten Firmenchefs
eines neuen industriellen Sektors in den Kostümen der Beatles die Titelseite
eines Business-Magazins schmücken, dann interpretiere ich dies nicht nur
als wishful thinking der Internet-Industrie, sondern auch als ein relativ deutliches
Indiz für einen Wandel des Zeitgeists. Kein Zweifel, vor zwanzig oder auch
vor zehn Jahren wäre ein solches Titelbild unvorstellbar gewesen. Inzwischen
ist es Normalität. Nach der Entdeckung des Sergeant Pepper Titelbilds habe
ich mir andere Ausgaben des SAR angeschaut, in der Hoffnung auf weitere Hinweise.
Darüber hinaus habe ich die Titelseiten von drei derzeit überaus populären,
einflußreichen und auflagenstarken Magazinen zur neuen Ökonomie angeschaut,
von Red Herring, The Industry Standard und Business 2.0.
Das Ergebnis: Weit mehr als die Hälfte der Titelseiten dieser vier Magazine
im Jahr 2000 sind charakterisiert durch eine offensichliche und in der Regel
wenig subtile Verbindung der Welt der Wirtschaft und der Industrie mit der Welt
des Sport, des Filmgeschäfts oder der Popmusik.
Sind coole Unternehmer- und Unternehmerinnen die neuen kulturellen Ikonen?
Treten sie in Konkurrenz zu Rock- und Popstars? Sind creative Businessleute
ebenso mächtige Produzenten symbolischer Güter wie Sportler, Musiker
und Künstler? Vermögen sie es, die Träume und Hoffnungen der
heutigen Jugend zu definieren? Natürlich ist die Fragestellung in dieser
Schärfe und Eindeutigkeit wenig hilfreich. Mir geht es hier nur um einen
Wandel der Relationen. Die These lautet: Die Beatles und einige andere Popbands
der 60er und 70er Jahre hatten einen größeren Einfluß auf Jugendkultur
als die heutigen Stars in der Popszene. Die Visionen von IBM Chef Watson waren
in den 60er Jahren keine Konkurrenz zu den Visionen der Beatles. Demgegenüber
müssen Oasis, Madonna, Radiohead und alle anderen heutigen Stars der Popmusik
mit IT-Ideolen wie Bill Gates, Steve Case, Paul Allen, Steve Jobs und Bill Joy
um kulturelle Deutungshoheit ringen. Steve Case und Madonna sind nicht mehr
Repräsentanten zweier völlig unterschiedlicher Kulturen, einer bürgerlichen
Kultur und einer Gegenkultur der Boheme, sondern sie verschmilzen zu einem kulturellen
Amalgam, für das David Brooks (2000) das schöne Wort "Bobos"
erfunden hat: Bobos sind "bourgeois bohemians".
Es geht mir in den folgenden überlegungen aber nicht nur um einen neuen
Unternehmertypus, sondern um einen umfassenderen Prozess einer Rekontextualisierung
von Kultur. In einem Reader zur Transformation anthropologischen Wissens, beschreibt
und ansatzweise beklagt Marilyn Strathern (1995: 5) einen Prozeß von Kulturanalyse
zu Kulturmanagement, von Reflexion über Kultur zu Produktion von Kultur,
von einem kontemplativen zu einem aktiven Zugang zu Kultur. Wenn um den Jahrtausendwechsel
von kulturellem Wandel die Rede ist, so Strathern, dann geht es weniger um eine
retrospektive Analyse der Veränderungen, sondern eher um ein institutionelles
Programm, um politische Strategien zur Wegbereitung von zukünftigen Veränderungen.
Unter diesen Umständen sehen alle institutionellen Veränderungen wie
kulturelle Veränderungen aus. Strathern (2): "Culture is…being contextualised
in ways that anthropologists may find novel. While they might well recognise
the fact that particular organisational practices…are embedded in a very specific
matrix of values, they might not have thought that cultural models could be
so reality borrowed from elsewhere…What is arresting…is the articulateness with
which culture is given a role as an agent for change."
Eine ähnliche Entwicklung diagnostiziert Habermas (1962). Er bringt den
Zerfall der öffentlichen Sphäre in Zusammenhang mit einem Wandel der
Aneignung von und des Umgangs mit Kultur. Er konstatiert und beklagt, ganz in
der Tradition der kritischen Theorie, einen Wandel von einem kulturräsonierenden
zu einem kulturkonsumierenden Publikum. Im Unterschied zu Strathern schreibt
Habermas, dessen Analyse ja auch mehr als 30 Jahre früher erschienen ist,
noch nicht über Kulturperformanz, sondern lediglich über Kulturkonsum.
Beiden Analysen gemeinsam ist jedoch die Tatsache, daß Kultur früher
außerhalb des Marktes verortet war, inzwischen aber in das Feld der Ökonomie
eingedrungen ist.
Kultur, schreibt Bauman (1999: xiii) ist grundsätzlich ambivalent. Kultur
ist immer zugleich Struktur und Praxis, Kontinuität und Wandel, Ordnung
und Chaos, determiniert und nicht determiniert, Muster und Kontingenz, Routine
und Kreativität, Wurzel und Fluß. Diese Paradoxie, so Bauman, war
in allen kulturtheoretischen Diskursen seit der Aufklärung angelegt. Ich
teile diese Sicht, möchte aber betonen, daß die Ambilanz nicht immer
gleichermaßen sichtbar war und daß oft einer der beiden Pole dominierte.
So hat etwa die orthodoxe Anthropologie eher die beschränkende, das heißt
die beständige, stabilisierende und ordnende Funktion von Kultur herausgestellt.
Routine und Alltag, Struktur und Tradition, Kontinuität und Wurzel waren
wichtiger als ihre Gegenüber, also Kreativität, Praxis, Kontingenz,
Wandel und Fluß. Das zeitgenössische Kulturmanagement hingegen betont
vor allem die andere Seite der Ambivalenz, die Freiheit und Machbarkeit von
Kultur. Der von Strathern beschriebene Wandel ist auch ein Wandel in der Gewichtung
dieser Paradoxien.
Karl Marx hat in seiner berühmten 11. These zu Feuerbach dazu aufgerufen,
die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Interpretation
konnotiert Marx mit Philosophie und – wenn auch nicht explizit – mit Kultur.
Veränderung konnotiert er mit Wirtschaft und Politik. In der Tat ist die
Marx’sche Kontextualisierung von Kultur eine völlig andere als die moderner
Managementkonzepte. Heutzutage weiß jeder Personaler, daß "Veränderungsmanagement",
um eines der Schlagworte betrieblicher Praktiker zu benutzen, vor allem über
die kulturelle Schiene möglich ist: über den gezielten Einsatz von
Symbolen. Heutzutage würde jeder Personalchef Marx entgegnen, daß
es nur auf die richtige Interpretation ankommt, um die Welt bzw. den Mikrokosmos
einer Organisation zu verändern. Vielleicht sogar nicht einmal auf die
richtige Interpretation, sondern nur auf die richtige Vermarktungsstrategie
einer halbwegs wettbewerbsfähigen Interpretation.
Wie kommt es zu dieser Transformation von Kulturanalyse zu Kulturmanagement?
Ich möchte mich dieser Frage annähern, indem ich das Verhältnis
von Kultur und Industrie in drei verschiedenen historischen Epochen bzw. drei
unterschiedlichen theoretischen Zugängen vergleiche: Kultur und Industrie
im Zeitalter von Marx, im Zeitalter von Adorno/Horkheimer und im Zeitalter des
Kulturmanagements in der neuen Ökonomie. Dabei unterstelle ich ein eins
zu eins Verhältnis zwischen Theorie und historischer Realität. Das
heißt, der theoretische Zugang zu Kultur bei Marx entspricht dem Stellenwert
und der Bedeutung von Kultur im Frühkapitalismus. Die Analyse von Adorno
und Horkheimer entspricht der Bedeutung von Kultur zu Beginn der Hochindustrialisierung.
Und ebenso entspricht die Praxis des Kulturmanagements dem Stellenwert und der
Bedeutung von Kultur in der postindustriellen neuen Ökonomie. Das heißt,
ich unterstelle, daß diese Theorien in ihrer jeweiligen Epoche auch ‘wahr’
waren/sind. Insofern ‘wahr’, als der Stellenwert, dem Kultur in den verschiedenen
Epochen gesellschaftlich zugeschrieben wird, in den entsprechenden Theorien
seinen Ausdruck findet.
Bei Marx und zu Beginn der Frühindustrialisierung war Kultur Teil des
Überbaus. Die Ökonomie gehört zur Basis, sie steht für
das Sein. Kultur steht für das Bewußtsein. Das Sein prägt das
Bewußtsein, die Ökonomie determiniert Kultur. Kultur hat nichts mit
Arbeit zu tun und ebenso wenig mit Industrie. Kultur und Industrie waren zwei
Welten, ebenso Kultur und Ökonomie. Die Ökonomie zur Zeit von Marx
ist nicht eine kulturelle, sondern in erster Linie eine politische Ökonomie.
Seit Adorno/Horkheimer und dem Beginn der Hochindustrialisierung jedoch wissen
wir, daß Kultur nicht lediglich zum Überbau gehört, sondern
daß Kultur auch eine Ware ist, die industriell produziert wird.
Seit Benjamin wissen wir, daß industriell produzierte Kultur und Massenkultur
nicht nur ein beklagenswertes, sondern auch ein erfreuliches Phänomen sein
kann. Bei Marx war nicht die Kultur eine Ware, sondern die proletarische Arbeitskraft.
Kultur hat bei Marx mit Arbeitskrafts nichts gemein und umgekehrt. In der postindustriellen
neuen Ökonomie sind Arbeitskraft und Kultur eng miteinander verwoben. Arbeitskraft
ist in der neuen Ökonomie nicht nur eine Ware, sondern eine Produktivkraft.
Dies ist einer der Gründe dafür, daß in den neuen Managementtheorien
die Arbeitskraft bzw. ganz hoch im Kurs stehen. Demzufolge sind die Beschäftigten
weniger ein Kostenfaktor sondern vor allem eine Ressource zur Erhöhung
der Produktivität. Die menschliche Arbeitskraft gehört zu den sogenannten
‘intangible assets’, zu den immateriellen Vermögenswerten eines Unternehmens.
Es sind genau diese intangible assets, denen in der neuen Ökonomie gegenüber
den materiellen Vermögenswerten wie Maschinen und Gebäuden eine so
ungeheure Relevanz zugeschrieben wird.
Kurz zusammengefaßt: Kultur im Frühkapitalismus von Marx gehört
zum Überbau, zum Bereich des Bewußtseins. Bei Adorno/Horkheimer und
zu Beginn der Hochindustrialisierung wird Kultur auch zu einer Ware. In der
postindustriellen neuen Ökonomie mutiert Kultur darüber hinaus zu
einer Produktivkraft. Damit betritt der Prozeß der Verwarung und Verwertung
von Kultur eine neue Dimension. Die Marxsche Ökonomie war eine politische
Ökonomie, die postindustrielle neue Ökonomie ist eine politische und
eine kulturelle Ökonomie.
Adorno und Horkheimer haben das Aufkommen eines spezifischen industriellen
Sektors beschrieben und verachtet, den der Kulturindustrie. Worin liegt
der Unterschied zwischen der Kulturindustrie zu Zeiten von Adorno/Horkheimer
und der Kulturindustrie in der neuen Ökonomie? Der Kulturindustrie von
Adorno und Horkheimer gehören alle Institutionen und Organisationen an,
die an der Massenproduktionen von kulturellen Objekten und Werken beteiligt
sind. Und Kultur bezieht sich hier vor allem auf die Popularkultur, auf Sport,
Jazz und anderen Formen von Entertainment. Die Kulturindustrie zu Zeiten von
Adorno und Horkheimer war folglich vor allem eine Industrialisierung von
Kultur. Die Kulturindustrie in der neuen Ökonomie hingegen ist vor
allem eine Kulturalisierung der Industrie. Mit dem Ausdruck Kulturalisierung
der Industrie meine ich nichts anderes, als das innerhalb der Industrie bzw.
des ökonomischen Feldes Kultur, ebenso wie Technologie und Arbeit, als
Produktivkraft eingesetzt wird, als "change agent" (Strathern) zur
Maximierung von Produktivität.
3. Produktivkraft Kultur
Dass Kapitalismus in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in eine
neue Phase eingetreten ist, ist oft und in vielen Variationen beschrieben worden.
Am plausibelsten halte ich das Modell des marxistischen Ökonomen Ernest
Mandel, das Fredric Jameson (1991) für seine Analyse der kulturellen Logik
im Spätkapitalismus aufgreift. Die dritte Phase, die Mandel und Jameson
als Spätkapitalismus bezeichnen, unterscheidet sich von ihren beiden Vorgängerinnen
Marktkapitalismus und Imperialismus durch eine "prodigious expansion of
capital into hitherto uncommodified areas". (Jameson 1991: 36) Ich denke,
dass diese ungeheure Expansion des Kapitals in Bereiche, die bislang nicht dem
Verwertungsprozess unterworfen waren, vor allem den Bereich der Kultur betrifft
und meine damit Kultur in einem umfassenderen anthropologischen Sinn. Jeremy
Rifkin (2000b) beschreibt diesen Prozess sehr anschaulich: "Think of waking
up one day only to find that every aspect of your existence has become a purchased
affair, that life itself has become the ultimate shopping experience. The capitalist
journey, which began with the commodification of material goods and places,
is ending with the commodification of human time and duration (…) In the Internet
Economy, the commodification of goods and services becomes secondary to the
commodification of human relationships. Holding clients' and customers' attention
in the new fast-paced, ever-changing networked economy means controlling as
much of their time as possible."
Was also heisst Produktivkraft Kultur? Ich möchte den Begriff präzisieren,
indem ich ihn Bourdieus’ (1982 und 1983) Begriff von ‘kulturellem Kapital’ gegenüberstelle.
Bourdieu hat in den feinen Unterschieden nicht nur eine materialistische, sondern
vor allem eine ökonomische Theorie unserer kulturellen Gewohnheiten vorgelegt
und sie empirisch untermauert. Ich zitiere den ersten Satz in den feinen Unterschieden:
"Auch kulturelle Güter unterliegen einer Ökonomie, doch verfügt
diese über ihre eigene Logik." Mit der Unterscheidung verschiedener
Kapitalsorten hat er die Logik kultureller Güter analysiert. Wichtig in
seiner Analyse ist die Breite seines Kulturbegriffs, der sich sowohl auf Kultur
"im eingeschränkten und normativen Sinn von Bildung" wie auch
auf Kultur in einem ethnologischen Verständnis bezieht und beide Varianten
verknüpft, den Reflexions-Geschmack und den Sinnen-Geschmack.
Bourdieus Konzept der Ökonomie kultureller Güter greift meines Erachtens
in verschiedener Hinsicht zu kurz, um den Status von Kultur in der neuen Ökonomie
angemessen zu beschreiben:
- Kulturelles Kapital bezieht sich bei Bourdieu eher auf Stil- und Geschmacksfragen,
sei es der Reflexionsgeschmack oder der profane Sinnengeschmack, es bezieht
sich aber nicht auf Praxen, die im weitesten Sinne mit Bedeutungskonstruktion,
Kulturmanagement oder dem Management von sozialen Figurationen zu tun haben.
Bourdieu kennt und benutzt den Begriff des "social engineering",
aber nur um ihn gegenüber der reinen Soziologie abzugrenzen. "A
good number of those who describe themselves as sociologists or economists
are social engineers whose function is to supply recipes to the leaders of
private companies and government departments." (Bourdieu 1993: 13) Zwischen
social engineering und kulturellem Kapital zieht er keine Verbindung. Genau
dieses social engineering ist es aber, was nach Strathern neu ist: Kulturelle
Konzepte, Werte, Muster etc. von einem anderen Kontext zu borgen und sie in
den eigenen Kontext zu integrieren. Eine geschickte (oder weniger geschickte)
Hand bei organisationsinternen Umstrukturierungen kann in Bourdieus Definition
von kulturellem Kapital nicht integriert werden. Aber auch die Produktion
und Manipulation von Bedeutung ist nicht integrierbar. Kulturelles Kapital
bezieht sich zwar auf die Kenntnis kultureller Werke, nicht jedoch auf die
Kenntnis und Manipulation des kulturellen Kapitals von sozialen Gruppen bzw.
Zielgruppen. Dies kann zu dem paradoxen Fall führen, dass etwa ein Beschäftigter
in der Werbebranche, der mit einer guten Werbeidee die Absatzfähigkeit
eines Produkts extrem steigert, laut Bourdieu nicht in Besitz von hohem kulturellen
Kapital ist, solange er nicht der Werke legitimer Kultur kennt.
- Kulturelles Kapital ist bei Bourdieu ausschliesslich ein Distinktionsinstrument
gegenüber anderen Klassen. Wenn in der neuen Ökonomie Kultur jedoch
zur Produktivkraft wird, dann hat kulturelles Wissen (damit meine ich praktisches
Wissen, das nützlich ist zur Bedeutungsproduktion und –manipulation,
und nützlich für social engineering) auch – oder sogar vor allem
– eine integrative Funktion. Die gesamten diskursiven und praktischen Bemühungen
um den Aufbau einer Unternehmenskultur basieren ja gerade darauf, die existenten
hierarchischen Unterschiede in einer Organisation zu verwischen, nicht jedoch
sie zu betonen. Und auch der oben erwähnte hypothetische Werbedesigner
zielt nicht nur auf Distinktion, wenn er sein kulturelles Wissen in Anschlag
bringt, sondern darauf, so viele Käufer wie möglich mit seiner Botschaft
zu erreichen.
- Kultur und Ökonomie sind bei Bourdieu zwei verschiedene Felder, die,
wie er sagt, je über eine eigene Logik verfügen. Der Kapitalbegriff
bildet eine Brücke. Kulturelles Kapital ist in ökonomisches Kapital
konvertierbar und umgekehrt. Das Konzept von Kultur als Produktivkraft geht
jedoch nicht mehr von zwei unterschiedlichen, aber konvertierbaren Währungen
aus, sondern basiert auf der Annahme, dass Konvertierungen nicht mehr notwendig
sind, weil Kultur in Form von kulturellem Wissen, ebenso wie Maschinen und
Arbeitskräfte, direkt in den Produktionsprozess eingespeist werden kann.
Kultur und Ökonomie unterliegen zumindest teilweise einer gemeinsamen
Logik.
- Schliesslich muss auch die Aktualität der von Bourdieu in den 60er
Jahren erhobenen Daten hinterfragt werden. In den sechziger Jahren war die
legitime Kultur (Elitekultur, Hochkultur) auch die dominante Kultur. Daran
hat sich das bildungsbeflissene Kleinbürgertum orientiert. Inzwischen
kann meines Erachtens ernsthaft bezweifelt werden, ob die Vertreter der distinguierten
legitimen Kultur (Menschen mit fundierten Kenntnissen von Aristophanes bis
hin zu Wagner und Andy Warhol) in einer ähnlich dominanten Position sind,
oder ob nicht die in den 90er Jahren begonnene Vereinigung von bürgerlicher
Kultur und Gegenkultur in Gestalt der Bobos (bourgeois bohemians) die wirkliche
Vertreterschaft der kulturellen Elite repräsentiert.
Produktivkraft Kultur bezieht sich also auf einen Prozess, der sich mit Bourdieus’
kulturellem Kapital nicht angemessen beschreiben lasst, weil dieser Prozess
nicht in der Sphäre der Stile und des Geschmacks bleibt, sondern vor allem
die bewusste Konstruktion, Veränderung und Manipulation von Kultur betont
– oft am Reissbrett). Produktivkraft Kultur, sowohl als social engineering wie
auch als Bedeutungsproduktion zielt nicht auf Distinktion, sondern auf Verflachung
und Integration. Produktivkraft Kultur bezieht sich nicht auf den Konsum kultureller
Güter (von Essen bis hin zu Museumsbesuchen), sondern meint vor allem Anwendung
kulturellen Wissens zur Gewinnverbesserung von Unternehmen. Produktivkraft Kultur
bezeichnet eine Entwicklung, in der sich die beiden Felder Kultur und Ökonomie
immer mehr verflechten. Es wäre jedoch verkürzt, den Wandel des Verhältnisses
von Kultur und Ökonomie als einen Prozeß einer zunehmenden Auflösung
der Ökonomie in Kultur zu beschreiben. Ebenso ist umgekehrt eine Ökonomisierung
der Kultur zu beobachten. Zur Zeit von Marx, aber auch in der wesentlich größeren
Epoche des bürgerlichen Humanismus, waren die beiden Sphären deutlich
voneinander getrennt. Kultur stand für Innerlichkeit, Tiefe, Zweckfreiheit,
das Gute, Wahre und Schöne. Kultur war das Gegenteil von profan. Elias
(1976) hat mit seiner bekannten Kultur-Zivilisations-Antithese die (deutschen)
Wurzeln dieser Trennung herausgearbeitet. Zu Beginn der Hochindustrialisierung
setzte eine Kommerzialisierung von Kultur ein. Allerdings beschränkte sich
die Kommerzialisierung auf kulturelle Güter, auf Produkte der Massenkultur
wie auch der Hochkultur, also auf Musik, Literatur, Kunst, Film etc. Im Zeitalter
der neuen Ökonomie hat die Kommerzialisierung auch die anthropologischen
Dimensionen von Kultur erfaßt. Das heisst die Kommerzialisierung von Kultur
erstreckt sich nicht nur auf materielle Kulturleistungen, auf kulturelle Güter/Waren/Produkte,
sondern auf einen wesentlich weiteren Kulturbegriff, auf das, was Anthropologen
in der Regel als die immateriellen Bereiche von Kultur definieren: auf Bedeutungen,
Werte und Normen, Ideen, Diskurse und Informationen, soziale Beziehungen, alltägliche
Routinen, sowie auf Praxen und Wahrnehmungen. Diese immateriellen Bereiche von
Kultur sind zur Ware und zur Produktivkraft geworden.
Die These von der Produktivkraft Kultur möchte ich an zwei Beispielen
verdeutlichen.
(1) Das Interesse von Unternehmen an Kultur: Unternehmenskulturkonzepte beziehen
sich sowohl auf Bedeutungsproduktion (vor allem innerorganisatorisch) wie auch
auf social engineering. Sie umfassen all jene Bemühungen, das Spannungsverhältnis
zwischen Individuen mit unterschiedlichen Interessen und der Organisation bzw.
den Organisationsleitenden zu kaschieren und eine gemeinschaftliche Ideologie
zu kreieren. Sicherlich, sowohl die zu Debatte über ‘human relations’ und
‘wissenschaftliches Management’ wie auch die Werks- und Betriebsgemeinschaften
der zwanziger und dreißiger Jahre zeigen, dass das Interesse von Unternehmen
an Kultur nicht ganz neu ist. Allerdings ist dieses Interesse mit dem Aufkommen
der Unternehmenskulturdebatte Anfang der 80er Jahre laut Marcus (1998: 5) auf
einer neuen Ebene angekommen. "Now with a particular value given to the
notion of ‘corporate culture’, human relations seem no longer to be just the
‘soft’framework for the discourse of liberal experts and social critics of corporations
in relation to how they treat labor, nor only the preserve of public relations
departments and corporate philanthropy in the effort to present capitalism with
an ethical, socially responsible face. Rather, values, norms, collective ethos,
authority in personal relations, and participatory structures of groups now
seem to be a salient and very serious frame of thinking for corporate managers
at all levels. What was once primarily the intellectual capital of oppositional
groups or critics of corporations now seems to be appropriated by corporate
leadership as can integral yet ambivalent characteristic of their own thinking."
Unternehmenskultur- und andere neuere Managementskonzepte sind zwar immer Ideologie
und Manipulation, aber eben nicht ausschliesslich Ideologie, sondern oft auch
Realität. Beispielsweise hat es in den letzten 20 Jahren auch realiter
einen Prozess der Verflachungen von Hierarchien in Organisationen gegeben. Und
es ist ja erstaunlich, dass auf Seiten der Praktiker und der Akademiker der
nun fast 20jährige Diskurs über Kultur in Unternehmen noch nicht abgeebbt
ist – im Gegenteil, er hat sich eher intensiviert (Marcus 1998: 6).
(2) Branding: Branding bezieht sich auf eine mediale und nach aussen gerichtete
Bedeutungsproduktion. Es geht um Image, Identität und Identifizierung.
Um Werte, Weltanschauungen und Lebensstile. "The astronomical growth in
the wealth and cultural influence of multi-national corporations over the last
15 years can arguably be traced back to a single, seemingly innocuous idea developed
by management theorists in the mid-1980s: that successful corporations must
primarily produce brands, as opposed to products." (Klein 2000: 3). In
"No Logo" beschreibt die Journalistin und Globalisierungskritikerin
Klein detailliert, wie es zu dieser Verschiebung (von der Produktion von Gütern
zur Produktion von Iamge) kam und welche Folgen dies hat. So hat etwa Nike,
eine der diesen Prozess anführenden Firmen, in der Periode zwischen 1987
und 1997 seine Werbeausgaben verzwanzigfacht – von etwa $25 Mio 1987 auf etwa
$500 Mio 1997. Während die globale Bedeutungsproduktion noch bis vor kurzem
vor allem per Produktwerbung erzielt wurde, ist das heutige Branding wesentlich
umfassender. Nike wirbt nicht für einen bestimmten Turnschuh, sondern Nike
wirbt für Nike. Nicht mehr einzelne Produkte werden vermarket, sondern
das Image eines Konzerns. Nike verkauft keine Schuhe, sondern Träume, Botschaften,
Statements. Nike hat schon 1992 dem Basketballstar Michael Jordan für eine
Werbekampagne mehr Geld bezahlt ($20 Dollars) als der gesamten indonesischen
Arbeitentruppe (30.000 Menschen), die die Schuhe produzieren. Immer deutlicher
zeigt sich also, daß nicht nur die traditionellen Kulturindustrien (die
Medien) Kultur mit globaler Reichweite produzieren, sondern daß alle industriellen
Sektoren an der globalen Produktion von Kultur beteiligt sind. Microsoft, Macintosh,
AOL, Nike, Swatch, Coca Cola, Calvin Klein, Benetton, McDonalds und das Body
Shop sind mittlerweile ebenso einflußreich als Produzenten von Bedeutung
wie die klassischen Kulturproduzenten, etwa Time Warner und Disney.
Auf der Homepage von fastcompany.com, einem Magazin und Netzwerk für alle,
die in den neuen Medien arbeiten, steht in dicken lettern die "FC rule
# 1": The job of a leader isn’t just to make decisions. It is to make sense
of the fast-changing world of business." Hier deutet sich ein fundamentaler
Richtungswechsel an. Jetzt in der neuen Ökonomie, glaubt man der Homepage
von fastcompany.com, gerät nicht Management, sondern Sinnproduktion zur
Hauptaufgabe von Führungskräften. Produktivkraft Kultur bezieht sich
auf eine Produktivitätsmaximierung durch die Integration von sozio-kulturellem
Wissen in den Arbeitsprozeß – der ja bislang vor allem von betriebswirtschaftlichem
und technischem Wissen dominiert wurde.
4. Zum Bedeutungsgewinn von kulturellem und kulturwissenschaftlichem Wissen
in der neuen Ökonomie
Dass Wissen im allgemeinen im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu einer sehr
dominanten Produktivkraft geworden ist, dürfte within akzeptiert sein (Bell
1973, Drucker 1993, Lyotard 1984, Knorr-Cetina 1995 und 2000). Deshalb geht
es mir in den folgenden Ausführungen speziell um kulturwissenschaftliches
Wissen. Seit drei Jahren findet im Sommer im Silicon Alley in New York eine
Konferenz für die neue Medien Industrie statt, genauer gesagt für
die Vorsitzenden dieser Firmen. "Rising Tide Summit", so der Name
der jährlichen Konferenz, "is an event at which business leaders,
artists, and technological innovators can mediate on, an debate, the ‘big picture’".
Ich zitiere hier die Passage aus dem Einladungstext der Konferenz im letzten
Sommer, die Auskunft über das Thema der Konferenz gibt: "Technological
innovation is changing our world at a breathtaking pace. Whether it is the Internet
revolutionising the music industry, or genetic engineering enhancing the food
we eat, technology is altering our world. The pace of this change is relentless,
and advances in technology frequently come with serious, and sometimes negative,
ramifications. If music is available globally for free, how will artists and
other content producers make a living? Should we be feeding our children enhanced
foods? Who is left behind in this digital revolution. How will we bridge the
digital divide? What is the relationship between hate speech and hate crimes?
How can we change the pattern of youth violence today? How valuable is our privacy
and can we protect it?" Die Fragen, die hier diskutiert werden, sind genuin
sozial- und kulturwissenschaftliche Fragen und könnten ebensogut auf unseren
Kongressen diskutiert werden.
Der Motor der neuen Ökonomie sind gerade die immateriellen Vermögenswerte
(intangible assets), also Ideen, Informationen und Beziehungen. Kulturwissenschaftliches
Wissen, so meine These, ist nicht mehr wie in der sogenannten alten Ökonomie
ein bestenfalls nebenwertiges Wissen – vielmehr spielt es jetzt eine so zentrale
Rolle, dass Konferenzen veranstaltet werden, auf denen Geschäftsleute das
soziokulturelle ‘big picture’ debattieren. Ich möchte dies am Beispiel
zweier kulturwissenschaftlicher Wissensfelder verdeutlichen.
(1) Wissen zur Organisation von sozialen Beziehungen. Dies
meint letztlich nichts anderes als eine Befähigung zum social engineering.
Es geht darum, soziale Figurationen zu produzieren, die die Zusammenarbeit und
Kommunikation in und zwischen Unternehmen verbessern. In der Organisationsforschung
ist schon oft darauf hingewiesen worden, dass Organisationen ihre ‘traditionellen’
Organisationsstrukturen fundamental verändern und immer mehr zu Netzwerken
werden. (Castells 2000, Imai 1991, Sydow 1996) Es gibt in der noch extrem jungen
Literatur zur neuen Ökonomie einen breiten Konsens, daß fundamentale
wirtschaftliche Veränderungen mit fundamentalen sozialen Veränderungen
einhergehen und daß Netzwerke die dominante Form sozialer Beziehungen
darstellen (Rifkin 2000, Leadbeater 1999, Kelly 1999, Castells 2000, Gilder
2000, Negroponte 1995, Dyson 1998). Menschen, die sich in Netzwerken bewegen,
entwickeln eine neue Form von Sozialität. Eine Netzwerk-Sozialität
steht in Opposition zu einer Sozialität, die auf Gemeinschaft basiert.
Gemeinschaft indiziert Stabilität und Kohärenz, Lokalität, Dauerhaftigkeit,
Kontext, Eingebundenheit, Verwurzelung, Integration und eine gemeinsame und
geteilte Biographie. Eine Netzwerk-Sozialität (Wittel 2000) hingegen ist
nicht dauerhaft, sondern kurzfristig aber intensiv. Netzwerkbeziehungen sind
nicht biographisch sondern informationell. Es sind flüssige Beziehungen,
die oft mit Hilfe von Medien und IuK-Technologien geführt werden. Netzwerkbeziehungen
sind re-kontextualisierte und re-lokalisierte Beziehungen. Sie das das Pendant
zu dem, was der Architekt Rem Koolhaas (1995) als "generic city" bezeichnet.
Sie basieren nicht auf Gemeinschaft, sondern auf Individualisierung. Netzwerkbeziehung
lassen sich nicht nur auf Castells’ makrosoziologischer Ebene (der Auflösung
von Organisationen in Netzwerke) beschreiben, sondern auch auf einer mikrosoziologischen
Ebene. Als Beispiel seien hier die in jüngster Zeit wie Pilze aus dem Boden
sprießenden Netzwerkveranstaltungen in der Internet-Industrie genannt,
etwa First Tuesday, Chemistry, e-Futures, Ecademy und Webgrrls, um nur einige
zu nennen. "The dynamics of our society, and particularly our new economy,
will increasingly obey the logic of networks. Understanding how networks work
will be the key to understanding how the economy works." (Kelly 1998:9f)
Bislang weiss jedoch niemand genau, wie Netwerke funktionieren, wie in Netzwerken
Kapital, Arbeit, Informationen, Klienten und Objekte zirkulieren, wie Integrations-
und Ausschlußmechanismen funktionieren, wie sich in Netzwerken Macht und
Hierarchie ausdrückt. Dieses Wissen ist ein genuin sozial- und kulturwissenschaftliches
Wissen.
(2) Wissen über Technologiekonsum und Interaktion mit technologischen
Schnittstellen: Wie sollen Datenbanken strukturiert und organisiert werden?
Wer soll Zugang zu welchen Informationen bekommen? Welche Informationen sollen/müssen
zirkulieren, welche sollen nicht in den Netzwerkkreislauf eingespeist werden?
Was ist ein gutes Interface? Welche web sites sind anwenderfreundlich? Wie soll
interactives Fernsehen aussehen? Welche Inhalte und Anwendungen des World Wide
Web sind besonders gut geeignet für Mobiltelefone? Welche technologischen
Plattformen eignen sich besonders gut zur Vernetzung? Wiederum: All diese Fragen
sind ein genuin sozial- und kulturwissenschaftliches Forschungsfeld. Es ist
deshalb keineswegs überraschend, daß etwa new media agencies wie
Razorfish, Iconmedialab, Scient, Organic, Sapient und Agency – das sind Firmen,
die andere Firmen dabei unterstützen, sich auf die neue Ökonomie einzustellen
– eine große Anzahl von Beschäftigten einstellen, die einen sozial-,
kultur- oder humanwissenschaftlichen Abschluss haben. Unsere Kultur ist eine
technologische Kultur (Schwarz 2000, Johnson 1997, Lash 2001). Kultur und Technik
können nicht mehr, wie etwa noch in den 70er Jahren geschehen, als zwei
getrennte Kategorien analysiert werden. In den 70er Jahren hatte Technikfolgenforschung
Konjunktur. Dabei wurde stillschweigend davon ausgegangen, daß technologischer
Wandel in soziokultureller Isolation entsteht, daß Technologie zuerst
von Ingenieuren und Physikern entwickelt, und anschließend von Sozialwissenschaftlern
in soziokultureller Hinsicht bewertet wird. In der neuen Ökonomie ist eine
solche Trennung aufgehoben, weil sozial- und kulturwissenschaftliche Expertise
bereits im Entwicklungsstadium einfließen und somit das technologische
Endprodukt in entscheidendem Ausmaß mitkonstruieren. In der neuen Ökonomie
sind Technologie und Kultur auf komplexe Weise verflochten. Jeder technologische
Wandel ist automatisch von einem kulturellen Wandel begleitet. Und umgekehrt
gilt: Es gibt keine Aspekte, Felder und Domänen von Kultur, die gegenüber
technologischen Entwicklungen immun sind. Wir leben in Technologie, wir bewohnen
Technologie. Technologie ist zu unserer Umwelt geworden.
In beiden Beispielen (soziale Beziehungen und Technologiekonsum) geht es um
Kommunikation. Alle gegenwärtigen Transformationen lassen sich letztendlich
darauf zurückführen, daβ wir (die
Konsumenten von IuK-Technologien) Kommunikation transformieren. ”Communication”,
schreibt Kelly (1998:5), "- which in the end is what the digital
technology and media are all about – is not just a sector of the economy. Communication
is the economy."
5. Zum ambivalenten Stellenwert von ethnographischem Wissen in der neuen
Ökonomie
Wenn es denn stimmt, daß kulturwissenschaftliches Wissen in der neuen
Ökonomie an Bedeutung gewinnt, läge es nahe, die Chancen, ethnographisches
Wissen als Beratungswissen zu verkaufen, als recht hoch zu verorten. Die Realität
sieht jedoch anders aus. Die Kluft zwischen wirtschaftlichen Organisationen
einerseits und traditionellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Instituten
ist nach wie vor groß. Warum also findet faktisch keine oder nur eine
geringfügige Annäherung statt? Ich denke, man kommt dem Problem mit
Lyotard (1984) ein ganzes Stück näher. In ‘The Postmodern Condition’
analysiert er den Zustand und Status von Wissen in hochentwickelten Gesellschaften.
Seine Grundthese: Bedingt durch technologische, vor allem informationstechnologische
Transformationen verändert sich in der Postmoderne der Status von Wissen
grundlegend. Lyotard beschreibt einen Prozess einer Veräusserlichung und
einer Verwarung von Wissen. Wissen bekomme zusehens mehr operationalisierbar,
nur jene Form von Wissen kann unter den veränderten Bedingen überleben,
die direkt in Information übersetzbar ist. Das alte Prinzip, wonach der
Erwerb von Wissen untrennbar mit Bildung verbunden ist, verliere mehr und mehr
an Gültigkeit. "The relationship of the suppliers and users of knowledge
to the knowledge they supply and use is now tending, and will increasingly tend,
to assume the form already taken by the relationship of commodity producers
and consumers to the commodities they produce and consume – that is, the form
of value. Knowledge is and will be produced in order to be sold, it is and will
be consumed in order to be valorized in a new production: in both cases, the
goal is exchange. Knowledge ceases to be an end in itself, it loses its ‘use-value’."
(p4)
Nun stellt sich die Frage, welche Form kulturwissenschaftlichen Wissens einen
hohen Tauschwert hat. Eine Antwort hierzu fällt vermutlich nicht allzu
schwer. Einen relativ hohen Tauschwert hat anwendungsnahes Wissen. Und all die
oben erwähnten Beispiele – von Unternehmenskultur und Branding über
social engineering bis hin zu Forschung über Technologiekonsum – stehen
für ein anwendungsnahes Wissen. In den letzten zwei, drei Jahrzehnten kam
es zu einer zunächst langsamen, jetzt aber immer sichtbarer werdenden Rekonfiguration
zwischen industrieeigener und universitärer sozial- und kulturwissenschaftlicher
Forschung. Zum einen ist hier von der Emergenz firmeninterner sozial- und kulturwissenschaftlichen
Forschung die Rede. Den Anfang machte 1970 Xerox Corporation mit der Gründung
von Xerox PARC (Palo Alto Research Center). Der Anfangsauftrag bestand darin,
Erkenntnisse über die Architektur von Informationen zu erwerben. Inzwischen
gibt es eine ganze Reihe von Firmen im ICT Bereich, die von sich behaupten,
sozialwissenschaftliche Forschung vorantreiben. Und in den neuen Medien arbeiten
eben nicht nur Programmierer und web site Designer, sondern Künstlerinnen,
Anthropologen, Soziologinnen, Psychologen und Kommunikationswissenschaftlerinnen.
Auf der anderen Seite entstehen immer mehr hybride Institute: Institute mit
einer pandisziplinären Ausrichtung (darunter durchaus auch ein sozial-
und kulturwissenschaftlicher Block), die sich sehr direkt an den Bedürfnissen
und Problemstellungen der Industrie orientieren – die beiden bekanntesten sind
das ‘Media Lab’ des MIT in Boston und das ‘Interactive Telecommunications Program’
der NYU. In England ware hier das "Hyper Media Research Centre" der
University of Westminster zu nennen, in Deutschland das ZKM in Karlsruhe. Fazit:
Es deutet sich an, daß in der neuen Ökonomie die Produktion von praktischem
kulturellen Wissen an den klassischen akademischen Institutionen vorbei organisiert
wird. Mit dem Begriff klassische sozial- und kulturwissenschaftliche Institute
bezeichne ich all jene, die ihr Selbstverständnis in der marxistischen
Tradition von Gesellschaftskritik verorten. Kulturwissenschaftliches Wissen
als Sozialkritik ist ein Wissen mit einem erheblich geringeren Tauschwert als
anwendungsfreundliches Wissen.
Zusätzlich zur Dichotomie gesellschaftskritisch versus anwendungsorientiert
gibt es noch eine zweite Dichotomie, die in diesem Zusammenhang Beachtung verdient:
die zwischen anwendungsorientiertem Wissen und ethnographischem Wissen. Hierzu
vier Beobachtungen aus meiner letzten Forschung, einer zweijährigen Ethnographie
der neuen Medienindustrie in London.
- Der Zugang zu den Firmen war extrem schwierig. Der ursprüngliche Plan,
sechs Firmen zu ethnographieren, liess sich nicht realisieren, weil ich nur
in zwei Firmen Zugang bekommen habe. Selbst reine Interviewanfragen sind zumeist
abgelehnt worden. Andere Forschungsprojekte innerhalb des "Virtual Society?"
Programms hatten ähnliche Schwierigkeiten. Es lässt sich also festhalten,
daß sich die neue Medienindustrie gegenüber einer sozial- und kulturwissenschaftlichen
Erforschung tendentiell eher verschlossen hat. Dies, obwohl das Interesse
der neuen Medienindustrie an Publicity enorm war. Gegenüber den Medien,
also Journalisten, hat sich die Industrie denn auch sehr geöffnet. Der
Grund hierfür hat wohl weniger mit Sympathie zu tun als mit der Tatsache,
daß eine journalistische Berichterstattung deutlich schneller ist als
eine akademische.
- In Grossbritanien läuft zur Zeit ein Forschungsprogramm, das auf einer
Kooperation zwischen akademischer und innerbetrieblicher Forschung basiert.
Um einen Projektantrag stellen zu können, muss sich ein akademisches
Institut ein oder mehrere Betriebe als Kooperationspartner suchen. Die Forschung
soll etwa zu gleichen Teilen von den akademischen Instituten (finanziert über
den Etat des Forschungsprogramms) und den Betrieben finanziert werden. Die
Betriebe können jedoch ihre Finanzierung über Sachmittel oder über
Gehälter abdecken. Scott Lash und ich haben einen Antrag eingereicht
und mussten hierfür betriebliche Kooperationspartner finden. Wir haben
vor allem nach solchen Betrieben gesucht, die dafür bekannt sind, firmenintern
sozialwissenschaftliche Forschung (user experience) zu machen. Obwohl wir
den Betrieben angeboten haben, sie sollten das Forschungsthema bestimmen,
am besten etwas, das in den nächsten Jahren sowieso ansteht, war es sehr
schwierig, Kooperationspartner zu finden. Dies ist erstaunlich, denn der Deal
hat so ausgesehen: Die Betriebe investieren personell in einen Forschungsbereich,
in den sie sowie investieren woollen und zusätzlich bekommen sie gratis
für den gleichen Betrag, den sie investieren, akademisches Wissen.
- In den meisten grösseren Firmen der neuen Medien gibt es eine Abteilung
‘usability’ oder ‘user experience’ oder ‘human computer interface’. Dies Beschäftigten
in diesen Abteilungen erforschen und verbessern das Design und die Informationsarchitektur
von Schnittstellen, seien es Internet, digitales Fernsehen oder Mobiltelefone.
Die meisten Beschäftigten in diesen Abteilungen schwärmen für
Ethnographie und beanspruchen, für ihre Forschungen selbst ethnographisch
zu arbeiten. Dies deckt sich jedoch nicht mit meinen Erkenntnissen. Alle Beschäftigten
in diesen Abteilungen machen eben keine "wirklichen" ethnographischen
Studien, sondern lesen stattdessen die neuesten Bücher von Interface
Gurus wie Brenda Laurel, Don Norman, Jakob Nielson und Bruce Tognazzini.
- Während meiner zweijährigen Forschung fiel mir auf, daß
alle meine Gesprächspartner erstens den gleichen Jargon benutzen und
zweitens dieselben Ideen verkündeten (letzteres natürlich abhängig
vom Zeitpunkt der Forschung, die Ideen haben ja zumeist nur eine sehr kurze
Halbwertszeit). Dieser Gleichklang des Jargons, der Ideen und der Prognosen
zur Entwicklung des Feldes und der Technologien war neu für mich und
unterschied sich eindeutig von meiner vorangehenden Forschung über die
Einführung von Gruppenarbeit in vier Betrieben. Damals gab es diesen
Gleichklang nicht. Wie kommt es zu dieser Uniformität? Die Beschäftigten
in der neuen Medien Industrie sind Akademiker. Alle eignen sich permanent
neues Expertenwissen an. Sie lesen die gleichen Bücher und die gleichen
Magazine, sie lassen sie gleichen Mailing-Listen zuschicken. Alle neuen Informationen,
Theorien, Technologiesprünge werden in Sekundenschnelle über die
elektronischen Netzwerke verbreitet. Manchmal während meinen Gesprächen
habe ich mir die Frage gestellt, ob eine Lektüre dieser Bücher,
Zeitschriften, web sites und mailing lists nicht genügen würde.
Der zusätzliche Erkenntnisgewinn durch ethnographische Forschung war
mir nicht immer klar.
- ethnographisches Wissen zielt auf Verstehen, nicht auf machen, managen,
anwenden. Es mag durchaus sein, dass ethnographisches Wissen genutzt werden
kann für Anwendungswissen, aber diese beiden Formen kulturwissenschaftlichen
Wissens nicht ohne weiteres kompatibel. Übersetzungsleistungen sind
notwendig.
Warum also wird ethnographisches Wissen in Firmen doch eher stiefmütterlich
behandelt? Meine Vermutung: ethnographisches Wissen und die neue Ökonomie
basieren in einem zentralen Punkt auf einem unterschiedlichen, ja diametral
entgegengesetzten Strukturmerkmal. Eine der zentralen Eigenschaften der neuen
Ökonomie heisst Geschwindigkeit. Informationen werden in Echtzeit übermittelt.
Der Guardian bringt jede halbe Stunde ein update seiner Webseite und die BBC
web site wird gar kontinuierlich upgedated. Ähnlich verhält es sich
mit Börsenkursen. Aber nicht nur Informationen werden in ungeheurem Tempo
weitergeleitet. Technologien entwickeln sich rasant, firmeneigene Projekte werden
immer kürzer und immer schneller. Beschäftigte wechseln immer häufiger
und immer schneller ihre Arbeitsplätze. Alles in der neuen Ökonomie
ist auf Geschwindigkeit ausgerichtet.
Ethnographien hingegen sind ein langer ruhiger Fluss. Zu
nennen wäre hier erstens die Geschwindigkeit der ethnographischen Wissensgenerierung.
Es gibt wohl kaum eine wissenschaftlich ernstzunehmende Ethnographie,
die in weniger als zwei Jahren erstellt wurde. Dies wird
in einem Zusammenhang, in dem die Halbwertszeit von Wissen und Informationen
immer schneller ansteigt, zu einem gravierenden Problem. In der neuen
Ökonomie sind zwei Jahre eine Ewigkeit. In einem informations-
und kommunikationstechnologischen Umfeld interessiert sich niemand für
Fragestellungen, die zwei oder drei Jahre alt sind. Aber auch die Geschwindigkeit
der Präsentations- und Kommunikationsformen ethnographischen Wissens ist
mit der neuen Ökonomie kaum kompatibel. Ethnographie
ist und war schon immer eine kontextintensive Forschung. Die Stärke der
Ethnographie liegt in der dichten Beschreibung, oftmals präsentiert in
dicken Büchern. Dicke Bücher jedoch entfalten in Zeiten, in denen
niemand mehr Zeit hat, nur eine sehr begrenzte Wirkung. Anstelle einer dichten
Beschreibung wird in Firmen eine dichte – und das heisst: möglichst knapp
gehaltene – Zusammenfassung bevorzugt. PowerPoint symbolisiert diesen Trend
besonders anschaulich. Warum noch ganze Sätze formulieren, wenn man stattdessen
nur einige Stichworte auflisten muss? PowerPoint steht für Einfachheit,
Klarkeit, für eine Reduktion von Komplexität. Ethnographie hingegen
gewinnt an Stärke, wenn Komplexität nicht reduziert, sondern entfaltet
wird.
Nun stellt sich natürlich die Frage, ob all dies für
unsere Disziplinen ein Problem darstellt.
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